Natur
Die Natur in der westlichen Philosophie
Die Natur wird in der westlichen Philosophie der Neuzeit negativ definiert: Natur ist das, was nicht vom Menschen beeinflusst ist. Diese Definition ist unklar mit verschwommenen Grenzen. Der Mensch hat seit Jahrtausenden die Natur beeinflusst, Wälder abgeholzt, Tiere gezüchtet oder ausgerottet, Flüsse gestaut, Kanäle gebaut oder Rohstoffe aus der Erde geholt.
Es gibt kaum einen Flecken auf dem Land, den der Mensch nicht beeinflusst hat. In der aktuellen Zeit beeinflusst der Mensch sogar das Klima und damit die gesamte Natur. Die Einflussnahme und Ausbeutung der Natur nimmt sogar stetig zu. Der Mensch wird weitere Natur in seine Kultur übernehmen. Er wird irreversiblen Naturschaden anrichten. Er wird jeden unberührten Flecken direkt oder indirekt beeinflussen. Selbst das Meer wird als Müllkippe in Besitz genommen. Soll man dem entsprechend in 100 oder 200 Jahren anerkennen, dass es gar keine Natur mehr gibt? Alles ist dann vom Menschen beeinflusst.
Aus der anderen Sicht wandelt der Mensch lediglich die tote Natur um, die Natur ohne Leben und ohne Geist. Er sammelt tote Materie ein oder er tötet für seine kurzfristigen Zwecke. Tote Materie, Steine, Kohle, abgeholzte Wälder, Gase, getrocknete Kräuter, Erze und jede Art von Fleisch und Gemüse wird verwendet und umgewandelt. Er stellt daraus etwas her, das am Ende in einer anderen Verwendung tot bleibt. Natur ist für den Menschen wandelbar oder wird wandelbar gemacht.
In dem noch engeren Sinne, den Kant vertritt, ist Natur der Inbegriff von allem was nach Gesetzen bestimmt existiert.[1] Die Lehre von der Natur „über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich...“[2]. Das ist Kants Anschauung, in der Gefühle und Geist keinen Platz haben. Es ist die Grundlage für das materialistische Weltbild der Neuzeit. Kombiniert mit dem Verständnis, dass Natur nur das ist, was der Mensch noch nicht beeinflusst hat, legt das die Basis für die Ausbeutung der Natur. Der unbeeinflusste Teil wird immer weiter schrumpfen und von den Wissenschaften zurückgedrängt, die rein materiell die Physik und Chemie in Stellung bringen. Dann gibt es als Ergebnis der weiteren Entwicklung keine Natur mehr.
Das ist eine rein anthropozentrische Sichtweise, die von keinem anderen Wesen geteilt wird. Und es ist vor allem eine Sichtweise, die in der Endlichkeit verharrt. Nur eine gezählte Endlichkeit lässt sich aufteilen und mit einer Grenze versehen – hier Natur, da Kultur – wenn wir die Nicht-Natur als ‚Kultur‘ bezeichnen wollen, wie Kant es getan hat.[3] Im Sinne der oben genannten Definition von der Natur als Restposten der menschlichen, technischen Herrschaft wird die Grenzziehung von der anderen Seite betrachtet: Natur ist ‚Nicht-Kultur‘.
Das ist nur aus dem Herrschaftsanspruch des Menschen nachvollziehbar, der an der Grenze immer Macht entfalten muss. Grenzen lassen sich nur mit Macht verteidigen, das gilt überall in der Natur. Die technische Kultur drängt also mit Macht die Natur zurück und maßt sich an, die Natur als Restposten zu definieren. Die Philosophie der Neuzeit machte sich zum Büttel der Machthaber, indem sie die Definition des Altertums umdeutete und die Natur unter den menschlichen Verstand sortierte als rein körperliche Ansammlung von Materie, die den Naturgesetzen gehorcht. Die Aufgabe der Naturwissenschaft bestand demnach darin, diese Gesetze in Erfahrung zu bringen, denn die Natur hat sie vor dem Menschen verborgen und hütet das Geheimnis. Die Wissenschaft muss eine inquisitorische Befragung entwickeln, um der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen.[4]
Mit diesem Ansatz ist der Mensch mit seiner Wissenschaft in eine kurzfristige Entwicklung eingestiegen, die an den endlichen Ressourcen gestoppt wird. Die technisch materielle Kultur basiert im wesentlich auf dem Ausgraben von Bodenschätzen, die zu neuen toten Gegenständen kombiniert werden, die einen kurzzeitigen Wert haben, bis sie als wertlos in die ‚Restnatur‘ zurückgeschüttet werden
Die Kerze wird dabei von beiden Seiten angezündet. Zum einen wird die belebte Natur getötet, indem Wälder abgeholzt und Seen ausgetrocknet werden, Wildtiere geschlachtet und Moorlandschaften ausgetrocknet werde. Zum anderen reduziert der Mensch die ‚Rest-Natur‘ mit wertlosem Kulturmüll, der das Leben auf der Erde erschwert oder auslöscht.
In der langen Sicht ist die materielle Ausbeutung der Natur für die Erde oder das Universum eine kurzfristige Störung, die auf natürlichem Wege beseitigt, aufgelöst oder zugewachsen wird. Die neuzeitliche Sichtweise auf den rein materiellen, leblosen Teil der Natur wird das nicht aufhalten. Schließlich liegt es nicht in der Verantwortung der Natur, das Leben einer Spezies zu erhalten, unabhängig davon ob sie ein passendes oder unpassendes Weltbild hat, oder ob sie überhaupt ein Weltbild hat. Fast alle Arten der Lebewesen sind ausgestorben und fast alle Kulturen sind untergegangen.
Vor dem Menschen gab es schon Natur und nach dem Menschen wird es weiterhin Natur geben.
Natur ohne Mensch ist Natur.
Die umfassendere Frage ist vielmehr: Gab es vor dem Leben schon Natur und wird es nach dem Leben weiterhin Natur geben?
Diese Frage wurde im Altertum ganzheitlich betrachtet und man suchte nach dem Wesen und der Materie der Dinge. Darin findet sich die Überzeugung, dass Leben über den Geist erkennbar ist.[5] Die naturnahe Betrachtung und damit auch die schamanische Interpretation des Lebens und der Materie, sieht den Geist oder die Seele als Basis der Natur, die das Leben ermöglicht. Die Natur ist nichts ohne den Geist, sie ist mehr als Materie und sie ist die Mutter des Lebens.
Als die Physiker tief genug gebohrt und lange genug geforscht hatten, sind sie auf den Geist gestoßen, der letzten Endes die Herkunft der Materie und das Wesen der Natur mit ihren ‚Gesetzen‘ erklärt. Sie kamen dort wieder an, wo sie gestartet sind. Hatten sie ursprünglich alles Geistige, Emotionale und Immaterielle aus der Welt verbannt, so entdeckten sie unter dem Boden der Materie die Energie oder den Geist wieder.
Der berühmte Physiker Max Planck hat es in einer Rede in Florenz (1944) als Quintessenz seiner Forschungen so formuliert: „Es gibt keine Materie an sich, alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zu dem winzigen Sonnensystem des Atoms zusammenhält.
Da es im ganzen Weltall weder eine intelligente noch ewige abstrakte Kraft gibt - es ist der Menschheit nie gelungen, das heiß ersehnte Perpetuum mobile (das aus sich selbst Bewegte) zu finden - so müssen wir hinter dieser Kraft bewussten, intelligenten Geist annehmen.
Dieser Geist ist der Urgrund der Materie, nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche (der Boden), denn diese Materie bestünde, wie wir es gesehen haben, ohne diesen Geist überhaupt nicht, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre. ... Eine Wissenschaft, die den Geist nicht in ihr Denken mit einbezieht, kann nicht zur Wahrheit vordringen. Die Existenz einer Schöpferkraft muss in den Wissenschaften als eine unanzweifelbare Tatsache akzeptiert werden.“[5]
Um mit den Worten von Max Planck ‚zur Wahrheit vorzudringen‘ müssen wir die anthropozentrische Sichtweise verlassen und anerkennen, dass es unmöglich ist nur mit dem menschlichen Verstand oder gar nur mit der Mathematik (Kant) die Natur zu verstehen. Die Natur ist nicht intelligibel.[6]
Aus der Position des Menschen innerhalb einer selbst definierten Welt ist es unmöglich, die Grenzen des Systems oder seine außerhalb liegenden Grundlagen auszuloten. Das führt zu dem unendlichen Regress, da die Frage nur deshalb möglich ist, weil es die Natur gibt, die es uns ermöglicht, Fragen zu stellen.
Mit einem spirituellen Zugang zu dem Geist oder der Seele finden wir den Schlüssel des Lebens und die Ruhe und Geborgenheit der Natur, die keine Geheimnisse vor uns verbirgt. Sie ist offen für die Gefühle und für den Geist. Sie breitet die emotionale Landschaft vor uns aus und teilt die Liebe mit allen Wesen, auch mit dem Menschen.
Die Natur vergibt keine Ziele.
Die emotionale Landschaft hat keine Grenzen, weil Emotionen geteilt werden und sich damit vermehren. Sie ist nicht der Restposten der Kultur, sondern sie umfasst das Leben und die Kultur. Ohne die Natur gäbe es keine Menschen und keine Fragen oder Erklärungen zur Natur. Eine grenzenlose Landschaft umhüllt die begrenzte Welt der Menschen.
Die Natur ist das Paradies, aus dem der Mensch sich mittels des Verstandes ausgegrenzt hat.
[1] E. Kant,:Schriften zur Naturphilosophie, S. 139
[2] Ebd. S. 15
[3] S. dazu den Text zur Kunst
[4] S. dazu den Text zu den Naturwissenschaften mit Francis Bacon u. a.
[5] S. dazu das Lebensprinzip und den Text über die Seele
[6] Max Plank in einem Vortrag in Florenz 1944 über „das Wesen der Materie", Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 11, Nr. 1797.