Leben

 

Das Leben ist ein Meer von Möglichkeiten. Wir werden in das Meer der Möglichkeiten geboren und bringen unser Meer der Möglichkeiten mit in diese Welt. Das Leben hat ein Prinzip für alle Wesen, für jede Pflanze, sogar für das Wasser, das Licht und die Steine. Das Prinzip muss so einfach ein, dass es für alle erkennbar ist. Der Mensch hat seine beschränkten Sinne und seinen Verstand, der ihn durch das Leben begleitet. Auch für ihn wie für jede Amöbe gilt das einfache Prinzip

Hier sind Deine Möglichkeiten – nutze sie.

Wir haben uns in der materialistischen Kultur von den einfachen Grundlagen des Lebens abgelöst und die Möglichkeiten unserer Wahrnehmung eingeschränkt. So sehen wir in den einfachen Prinzipien der Mechanik nur die quantifizierbaren Zusammenhänge zwischen Materie in einer mittleren Größenordnung. Die Wirklichkeit der Quanten und die Kraft des Geistes und Verstandes liegen außerhalb der physikalischen Betrachtungen seit Isaac Newton. Die nutzbaren Möglichkeiten in der neuzeitlichen Gesellschaft sind in weiten Lebensbereichen von der Technik und Ökonomie eingeschränkt. Der Schutz der Erdatmosphäre unterliegt ökonomischen Begrenzungen der Rentabilität. Die Freiheit des Arbeiters ist von der quantifizierten Zeit eingegrenzt. Und doch gibt es das Zeitgefühl, das die Zufriedenheit und das Lebensglück bestimmt. Langfristig nach menschlichen Maßstäben wird die Erdatmosphäre sich gegen die ökonomischen Interessen wehren. Wenn beides nicht in Synergie kommt, zieht die Ökonomie den Kürzeren. Das Leben im weitesten Sinne wird das Spiel für sich entscheiden, mit oder ohne den Menschen. Die einfachen Grundlagen des Lebens überdauern seine unnatürlichen Einschränkungen.

In der Rückschau wird Thales von Milet als der erste Naturwissenschaftler bezeichnet, der die Art und Weise begründet hat, in der wir uns und die Welt sehen. Die Griechen in dieser Epoche begannen über die Welt in einer neuen Art und Weise nachzudenken. Sie überließen das Feld nicht vollständig den Göttern, sondern suchten nach eigenen Erklärungen für die Entstehung der Welt und das Zusammenwirken ihrer Kräfte. Der neue Ansatz war von der Erkenntnis getrieben, dass die Welt eine Ordnung hat und der Mensch fähig ist, diese Ordnung zu erkennen und zu verstehen. Thales war der erste Denker, der sich auf die Suche nach einem Urstoff gemacht hat und erwartet hat, dass es in allen Dingen etwas Unveränderliches gibt. Alles in der Welt verändert sich permanent und wir erkennen es doch wieder. Menschen werden geboren und altern, Flüsse tragen Erde und wechseln ihren Lauf, ein Gegenstand verwittert, verrottet und geht zur Erde zurück, eine Wolke ändert die Gestalt. Und doch erkennen wir alles wieder und ordnen es in unsere Welt ein. Das hat Thales dazu verleitet nach einem Stoff zu suchen, der allen Wesen, Pflanzen, unbelebten Dingen und der Erde innewohnt. Er hat als den Urstoff das Wasser beschrieben

Leben braucht Wasser.

In einer schamanischen Sichtweise erscheint die Seele als die gemeinsame Urkraft in den lebenden Wesen und der gesamten Natur.[1] Die Idee des Thales ist vermutlich nicht, dass alle Wesen aus dem Urstoff erschaffen sind oder gar daraus zusammengesetzt sind.[2] Wir können ihm aber insofern zustimmen, als alles Leben aus dem Wasser kommt und diese Substanz braucht. Für manche Lebensprozesse ist auch Licht notwendig, aber wie Thales das schon erkannt hat, jedes Leben braucht ausnahmslos das Wasser.

Was immer diese Kraft hervorgebracht hat oder was immer den Ursprung des Lebens bewirkt hat – wir wissen es nicht und wir werden es nie erfahren. Das ist unmöglich, denn wir sind ein Teil des Ganzen, das wir ergründen wollen. Eine Lösung dieses Dilemmas ist schon logisch unmöglich und praktisch hat es noch keine menschliche Gemeinschaft erreicht, intellektuell bis zu dem Ursprung des Lebens vorzudringen und seine Herkunft zu erklären.

Das Weltbild der Physik differenziert die Wirklichkeit in Teile und versucht mit einer akribischen Erforschung der Teile das Ganze zu verstehen. Das ist das atomistische Prinzip und es hat bisher nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.[4] Millionen von Generationen, die kein materialistisches, quantifiziertes Konzept der Natur hatten, haben lange überdauert. Sie haben meist länger überdauert als die moderne westliche Kultur. Und alle anderen Lebewesen haben ohnehin dieses Konzept nicht. Diese Tatsachen sprechen zumindest nicht für den Materialismus der Physik und Chemie.

Wie ein Naturvolk das Leben und die Welt in seinem Dasein betrachtet kennen wir noch aus den Erzählungen der Indianer Nordamerikas und anderer Kulturen, wie denen der Inuit, der Aborigines, vieler Völker Afrikas und Südamerikas.[5]

„Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter. Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig, in den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. ... Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys – und des Menschen – sie alle gehören zur gleichen Familie.“[6]

„Jungs Idee vom sinnerfüllten Zusammenhang, der ‚akausalen Verknüpfung‘, ist für Indianer eine lebendige Erfahrung und nicht nur eine theoretische Idee.[7]

Das Leben der Indianer ist voller Qualitäten und passt deshalb mit dem Bild der materialistischen Kultur, die alle Dinge lediglich in der Quantität an einem Platz des Raumes und zu einem berechenbaren Zeitpunkt bewertet, nicht zusammen. „Das Ansinnen des weißen Mannes, unser Land zu kaufen, werden wir bedenken. Aber mein Volk fragt, was denn will der weiße Mann? Wie kann man den Himmel oder die Wärme der Erde kaufen – oder die Schnelligkeit der Antilope? Wie können wir euch diese Dinge verkaufen – und wie könnt ihr sie kaufen? Könnt ihr denn mit der Erde tun was ihr wollt – nur weil der rote Mann ein Stück Papier unterzeichnet - und es dem weißen Manne gibt? Wenn wir nicht die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen? Könnt ihr die Büffel zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist?“ [8]

 

Mitaque Oyassin

Alles ist miteinander verbunden für die Naturvölker und ihr Leben. Mit der Überzeugung haben sie über viele tausend Jahre im Einklang mit der Natur gelebt und Mutter Erde hat gut für sie gesorgt. In ihrer Obhut sind sie geborgen.

Wenn wir allen kulturellen Ballast beiseiteschieben und uns nur dem Leben zuwenden, so liefert es auf die drängende Frage: “Warum bin ich hier?“ die einfache Antwort: „Du sollst glücklich sein.“ Das Sein ist nicht das Werden. Die Antwort lässt sich erweitern: „Du bist glücklich in die Welt gekommen, Du hast alle Liebe mitgenommen und kommst aus der Geborgenheit. In dieser Welt sollst Du glücklich bleiben. Dein Glück soll nicht werden, sondern sein.“

Diese Lehre und Erkenntnis habe ich in meinen Erfahrungen erst langsam wiedergefunden. Ich bin in Schule und Berufsleben eingetaucht in die materialistische Welt um mich herum. Ich kann nur von den Steinen berichten, die ich am Rande meines Weges gesammelt habe - einen anderen Weg kenne ich nicht. Ich habe mich selbst erlebt, wie ich von dem Leben, das ich mitgebracht habe in eine Wirklichkeit gekommen bin. Von dort stieg ich in eine Welt ein, die Andere quantifiziert und für mich als Rahmen aufgebaut haben.

Im weiteren Fortgang begrenzte sich diese Welt sogar weiter mit ökonomischen Betrachtungen und Plänen, bis zum Ende dieser Geschichte. Meine Lebensgeschichte ging hier nicht weiter, ich war am Ende meiner Möglichkeiten. Mit Hilfe der Spirits fand ich den Weg entlang der Stationen, die mich zum Leben zurückgebracht haben. Das ist eine andere Geschichte.

Ich habe Texte verfasst, Geschichten geschrieben und Aktionen zusammengetragen. Ich bin Wege gegangen, die es vorher in meinem Leben nicht gab und auch nicht in den Leben der Menschen in meiner Umgebung. Ich schreibe über den Zustand, den wir Leben nennen und der zu Wirklichkeiten und zu Welten eingegrenzt wird. Ich habe eine schamanische Betrachtung auf die Natur und ich habe meine Betrachtung auf die Welt und die Wissenschaft aus diesem Blickwinkel revidiert. Für mich war der Weg durch das Tal der quantifizierten Wissenschaft ganz sicher der Richtige. Für mich waren es die Erfahrungen, die ich brauchte.

Du bekommst nicht was Du willst, sondern was Du brauchst.

Aus der schamanischen Sicht blicke ich auf das Leben und erkenne es als eine Möglichkeit aus dem Geist, der Seele oder dem Brahma. Schauen wir von dort auf die Natur, so sind wir uns über die Wechselwirkungen oder Hierarchien nicht im Klaren. Das Leben braucht den Geist oder die Seele für seine Existenz. Ohne die Seele bleibt die Materie übrig und die ist tot. In unserer materialistischen Anschauung sehen wir das Leben in der Natur. Es ist auch zu beobachten, dass das Leben immer das vergangene Leben braucht, es gedeiht auf seinen Überresten.[9] Die Natur bezeichnen wir als belebt und unbelebt, das kann jeder in unserer Kultur aus seiner alltäglichen Erfahrung bestätigen. Steine, Gase, Öl, Erden und Mineralien leben nicht, gehören aber auch zur Natur. Die Überreste des Lebens sind aber die materiellen Anteile an der Natur. Erde ist Humus, Kohle sind pflanzliche Überreste, Öl ist aus Plankton entstanden, selbst der Sauerstoff ist eine Ausscheidung der Bakterien vor Milliarden von Jahren gewesen.

 

Ohne Leben gibt es keine Natur

Diese wechselseitigen Abhängigkeiten gibt es zwischen den Ebenen der Natur und der Welt, der Wissenschaft und der Kultur, dem Menschen und der Liebe, dem Weltbild und der Wirklichkeit ebenso. Wenn wir diesen Spuren auf den schamanischen Wegen folgen, werden wir irgendwann von der Erkenntnis eingeholt, dass Alles mit Allem zusammenhängt. In der schamanischen Sichtweise betrachte ich keine andere Welt, sondern ich betrachte die Welt anders.

Wir bezeichnen diese Ebenen, beschreiben das Leben, lesen wissenschaftliche Veröffentlichungen oder diskutieren philosophische Lehren über das Sein und das Werden. Mir ist sehr bewusst, dass diese Worte und Bilder nur Hilfskonstruktionen sind, die wir zum Leben nicht brauchen. Kein nichtmenschliches Lebewesen braucht solche Krücken der Verständigung. Die Begriffe sind jedoch für das Sozialwesen und unsere Kommunikation untereinander von Bedeutung und aus diesen Kontexten sind sie auch entstanden. Die Wirklichkeit ist verabredet und die Welt entsteht aus den Regeln. In der Welt, innerhalb der vereinbarten und akzeptierten Regeln gibt es die messbaren und quantifizierten Bilder der Physik. Sie engen die Welt noch mehr ein auf ein Bild, das mit den formalen Regeln der Mathematik gemalt wird. Wir nennen das erst einmal ‚Weltbild‘, bis wir zu dem Abschnitt kommen, wo es von der Welt unterschieden werden muss.

Aus einer schamanischen Sicht auf das Leben drängen sich Fragen auf, die der konstruierten Welt den Spiegel vorhalten. Aus dieser Sicht steht der Mensch nicht im Zentrum der Natur. Seine Fähigkeiten und Möglichkeiten erheben ihn nicht über die anderen Kreaturen. Der Verstand soll ihn von den nichtmenschlichen Wesen abheben und ihm eine besondere Rolle in der Natur zuordnen. Dieser angebliche Entwicklungsvorteil schmilzt aber bei genauerer Betrachtung zusammen. Der Verstand hat den Menschen befähigt, Physik und Chemie, Mathematik und Geometrie zu erfinden. Das ist aber ein zweifelhafter Erfolg, denn diese Erfindungen des Weltbildes haben keine Beziehung zum Leben.[10] Ist es dann nicht vielmehr ein Nachteil, die Menschen mit Fähigkeiten auszustatten, die lediglich eine Fiktion der Wirklichkeit aufbauen?

Die schamanische Sicht ist keine anthropozentrische. Das Netzwerk der Natur hat keinen Mittelpunkt. Der schamanische Blick richtet sich auf das Leben und er wird vom Leben beeinflusst. Das Leben ist Liebe, Gefühl, Verlangen und Hingabe zu anderen Wesen und zur Mutter Erde. Wenn die Erde im Zentrum steht, drängen sich Fragen aus dem Leben in die Geschichten der Naturwissenschaftler. Die Beobachtungen in den Grenzen des definierten Rahmens einer vereinbarten Welt werden unerklärlich. Warum scheitert die Mathematik an der Unendlichkeit? Wann funktioniert der Körper nicht? Wie setzen sich schädliche und irrationale Strukturen durch und gefährden die Zufriedenheit des Lebens? Ist ein gesundes Leben innerhalb erzwungener Randbedingungen einer künstlichen Welt möglich? Sind die Zufriedenheit und das Glück im Leben erreichbar? Lässt sich eine persönliche Welt leben?

Auf die Fragen können wir kaum Antworten von Menschen erwarten, da der Mensch das einzige Lebewesen mit Fragen ist. Sollen wir keine Fragen stellen, weil die Antworten auch nur von Menschen kommen können, die oft in ihrem eigenen beschränkten Weltbild umherirren und ihre Wertmaßstäbe vor die Antwort spannen? Ohne eine Unterstützung aus der Unendlichkeit lässt sich die Lüge nicht von der Wahrheit unterscheiden. In der materialistischen Welt ist die Sicht auf die Wahrheit versperrt. In einer naturnahen Kultur bleibt wenigstens noch die Möglichkeit das Leben anzuerkennen und zu respektieren.

Aus einer ganzheitlichen, einer schamanischen Sicht, einem Aufstieg aus der Natur in die Welt oder wie wir das auch individuell bezeichnen wollen, werden wir etwas erleben, das neue Worte braucht. Die alten Wege sind ausgefahren, die alten Worte sind gestorben und ihre Hülsen beschreiben alte Bedeutungen. Wir werden neue Worte gebären und in die neue Sicht auf unser Sein als Ausgeburt der Natur einführen. Wir spüren die Unendlichkeit der Gefühle auf dem Grund unserer Seelen auf. Diese Reise aus dem Seelengrund führt zu einer anderen Welt im Leben.

[1] Eine Übersicht zu den Entwicklungen der materialistischen Wissenschaften findet ihr in verschiedenen anderen Textstellen: Naturwissenschaft, Intelligible Ordnung, Chaostheorie
[2] Ob das eine zutreffende Bezeichnung ist, soll hier nicht diskutiert werden. Je nach Weltanschauung kann diese gemeinsame Urkraft Geist, Gott, Élan Vital, Psyche, Animus, Cosmos genannt werden. Mit Worten lässt sich das Phänomen nicht endgültig beschreiben.
[3] Von Thales hat es kein einziges Schriftstück in die Gegenwart geschafft, deshalb reimen wir uns seine Aussagen aus dem Zeugnis Dritter zusammen.
[4] Siehe dazu den Beitrag zur Atomistik.
[5] Siehe zum Beispiel die Schilderungen und Erzählungen: Colin M. Turnbull, The Forest People, New York 1962; Madarejùwa Tenharim, Thomas Fishermann, Der letzte Herr des Waldes, München 2018; Mette Bovin, Nomads Who Cultivate Beauty, Upsala 2001
[6] Seattle: Wir sind ein Teil der Erde, 1. Auflage, Zürich 1999, S. 16 f. Wenn auch die Authentizität der Rede umstritten ist, so gibt sie in der Essenz die Jahrtausende alten Erfahrungen der Naturvölker wieder.
[7] F. David Peat: Der Stein der Weisen, Chaos und verborgene Weltordnung, München 1994, S.20 f
[8] Seattle, a.a.O. S. 29 f.
[9] Siehe dazu den Text zum Lebensprinzip
[10] Siehe dazu den Beitrag zur Naturwissenschaft