Auf der Suche nach dem ersten Stein

Leben, Metaphysik und die Welt.

 

Schamanisch ist natürlich

Wir haben das Leben, die Natur, den Menschen und seine Welt thematisch gegliedert, um in diesen Bereichen zu einer verständlichen Aufbereitung der Themen zu kommen. Zu diesen Bereichen habe ich jeweils eine andere, eine schamanische Wahrnehmung beschrieben, die von einigen Kategorien absieht, die mit dem Logos über die Bereiche gestülpt werden. So ist bei der schamanischen Wahrnehmung die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht kategorisch und einige anderen der Kant’schen Kategorien werden auch nicht aufgesetzt.

Die Kausalität innerhalb einer zweiwertigen Logik vereinfacht die natürlichen Zusammenhänge zu stark. Hierarchien und Ebenen, die inhärent oder unabhängig sind, lassen Relationen außen vor, die nur auf den ersten Blick unabhängig sind. Zum Beispiel ist das Endliche im Unendlichen enthalten, oder die Natur im Leben. Chaos und Ordnung sind keine Gegensätze, sondern ein Ergebnis der Möglichkeiten, Komplexität zu handhaben. Ich werde von diesen Details und den Ergebnissen der schamanischen Wahrnehmung in den einzelnen Abschnitten mehr schreiben, was mich zu neuen Bildern und Einsichten führt.

Ich kritisiere die vorgefundenen Ansätze aus dem Logos nicht und ich nehme keineswegs in Anspruch, dass ich sie in der vollen Breite kennengelernt habe. Ich schließe aus den Beobachtungen und den Erfahrungen meiner schamanischen Arbeit auf die Wirkungen des Logos in der Welt und in persönlichen Entwicklungslinien. Wir haben in der Metazoë gefunden, wie Strukturen (Gosdalan) unabänderlich aus der Vergangenheit wirken. Deshalb ist es müßig, sich damit abzumühen und eine Kritik an den gewachsenen Entwicklungslinien zu formulieren.

Es ist, wie es geworden ist.

Ich habe gefunden, dass die Schamanische Wahrnehmung aus meinem Kulturkreis mit dem Begriff ‚übervernünftige Intuition‘ gut zu kennzeichnen ist. Diese Eingebung ist ohne Raum und Zeit, sie macht sich an Ereignissen fest. Ich kann sie ohne Denken und ohne meinen Willen wahrnehmen, wenn ich mein Ego so weit es geht zurückdränge, wenn ich ohne Erwartungen und Interpretationen den Eingebungen spiritueller Herkunft (δαιμόνιον daimónion) folge.

Die Kategorie kommt bei Kant nicht vor – sie ist geradezu das Schreckgespenst von Kant, oder wie er es nennt: ‚Träume eines Geistersehers‘. Diese Wertung und Ablehnung Kants trennt die Natur in eine materielle Welt, die beim Menschen als Körper erscheint und eine geistige Welt, die keinen Raum einnimmt und als Seele irgendwo im Körper platziert wird. Kant ‚beweist‘ in seinem Büchlein, dass es keine Seele im Körper geben kann. Der Wille steuert den Körper. Er steuert den Körper zielorientiert.

In der schamanischen Wahrnehmung ist eine Trennung in mythische und materielle Welten sinnlos. Die Seele als unendliche Entität kann nicht vom Körper getrennt sein, oder in ihm sein. Es gibt keine eigene Seele im Körper. Eine Trennung ist schon deshalb unsinnig, weil eine unendliche, immaterielle Entität keine Grenze hat. Wie soll sie dann von dem Körper ‚abgegrenzt‘ werden oder gar in dem endlichen Körper enthalten sein?

Die schamanische Wahrnehmung erkennt ein mystisch materielles Ganzes mit dem Menschen als integralen Teilnehmer am ewigen Spiel des Lebens. Die Metazoë lässt keine Isolierung zu, denn der Mensch und die Seele von Allem tragen die Erinnerungen und anderen Strukturen (Gosdalan) in ihr Leben. Eine Entimira ist die Schachtelung von Möglichkeiten (e’a) und Strukturen. Die Trennung von der bisherigen Entwicklung aller Ahnen und den Ergebnissen des Zoë ist undenkbar. Die schamanische Empfindung ist ohne Raum und Zeit und damit immer ganz.

Eine Entwicklung unterliegt nicht dem Willen der Lebewesen oder eines höheren Wesens. Das Leben ist eine Umsetzung von e’a in Wahrnehmbares. Auf seinen Pfaden begegnen dem Lebewesen immer neue Möglichkeiten. Die passende Auswahl zu den Bedürfnissen und den individuellen Veranlagungen zu treffen, ist ganz entscheidend für das glückliche und das gute Leben. An anderer Stelle sprechen wir ausführlich über das Glück und die Zufriedenheit im Leben. Für die schamanische Lebenskunst ist es wichtig, sich an den Möglichkeiten zu bedienen, die von den Spirits angeboten werden. Das Leben ist insofern nicht ein Abarbeiten von Plänen unter dem Einsatz eines starken Willens, sondern die Akzeptanz von Angeboten, die zu dem Leben passen. Dabei hat das Angebot einer Wachstumsmöglichkeit für die Baumwurzel eine ähnliche Qualität, wie das Angebot eines Hauses als Heim für die Familie.

Du bekommst, was Du brauchst.

Von dieser Erfahrung wird auch die schamanische Wahrnehmung beeinflusst. Sie ist kulturell übergreifend und fundamental in Bezug auf das Leben und die Natur. Sie nimmt das Leben aus dem Blick der Mutter Erde und ihrer Natur wahr. Die schamanische Wahrnehmung resultiert aus den Gefühlen und wir mögen sie aus dem Blick der westlichen, technischen Kultur als mystisch oder gar wild bezeichnen. Das schamanische Gefühl für Entwicklung schaut in die Zukunft und ist aufmerksam für die e’a. In der Vergangenheit gab es keinen Plan für Nichts und Niemanden und trotzdem ist das Spiel des Lebens immer weitergegangen. Ohne Plan bauen sich für die Zukunft keine Erwartungen auf. Das hat den erheblichen Vorteil, dass keine Enttäuschungen die Seele belasten und Unglück anziehen.

Mit einem planenden, willensgetriebenen Blickwinkel sieht man auch und vor allem in der Vergangenheit eine Entwicklung, die vermeintlich einem Plan folgte, der ein Ziel hatte und in diesem Sinne eine ‚Weiterentwicklung‘ zu einem höheren Niveau war. Das höhere Niveau ist unter dem Wertekanon der westlichen, technischen Kultur ein materielles, quantifizierbares Mehr, in dem die Vernunft regiert.

Das vernunftorientierte Denken steht in der schamanischen Empfindung des Lebens gar nicht im Vordergrund. Natürlich denkt der Mensch immer. Er hat sich die Mythen ausgedacht und denkt Erwartungen für die Zukunft. Aber Erklärungen, Kausalitäten, Grenzziehungen und Machtphantasien sind kulturelle Ausprägungen, die dem natürlichen Zyklus im Leben nicht dienen. Die Erde existierte und hat in einer unvergleichlich langen Periode Leben beherbergt und ihm die Randbedingungen gegeben. Entimira hat das Jetzt geschaffen, inklusive der Vergangenheit. Dazu wurde keine Vernunft gebraucht, die sich erst seit der Aufklärung in einem kurzen Zeitraum von etwa 400 Jahren im Vergleich zu dem Erdalter von 13,5 Mrd. Jahren strukturiert hat.

Aus dem Leben ist die Natur geworden, das haben wir in der Metazoë ausführlicher besprochen. Sie wird den Menschen überdauern, wie sie alle Lebensformen und Arten überdauert hat. Der Mensch hat sich mit dem materiellen, technisch ausgerichteten Denken von der Natur entfernt. Die Wissenschaft der westlichen Kultur findet den Weg zurück ins Paradies der Mutter Erde nicht mehr. Sie hat den Boden für eine Machtgesellschaft bereitet, die nun wiederum die Unzulänglichkeiten ihrer Wissenschaft, ihre Untauglichkeit, das Leben zu erklären und die Unfähigkeit, ein gutes Leben für alle zu erhalten, gegen die Basis der mystischen oder naturverbundenen Wahrnehmung der Welt verteidigt.

Die schamanische Wahrnehmung ist bei der ursprünglichen, naturverbundenen Basis der Lebenskunst verblieben. Es bleibt unverständlich, warum sie diese Position gegenüber denjenigen verteidigen soll, die sich von der Natur entfernt haben. Die Distanz des technischen Weltbildes zum Leben ist unnatürlich und sie ist noch nicht einmal logisch. Wie und warum soll der Mensch als integraler Part des Lebens auf Erden sich so weit von der Natur entfernen? In der Entfernung malt er sich ein ‚Weltbild‘, in dem er sich und seine Kultur anthropozentrisch positioniert. Damit rückt er sich mit der technischen Kultur in den Mittelpunkt und versucht von dort aus die Randbedingungen zu erklären.

In einer schamanischen Wahrnehmung ist das Leben die letzte und die wichtigste Instanz unseres Daseins. Das Leben ist der äußere Rand jeder Betrachtung und jeder Fragestellung. Zoë, das Prinzip des Lebens, ist ein infinites Spiel, das nicht gewonnen oder verloren werden kann. Dieses Spiel hat kein Ziel, seine Bestimmung ist die Fortsetzung der Randbedingungen für die finiten Spiele der einzelnen Leben. Und in der ewigen Autopoiesis tragen die einzelnen Leben zu den Randbedingungen und der Fortsetzung des Zoë bei. Das Einzelne Leben (bios) ist also von der Permanenz des Zoë abhängig. Die Natur ist ein Ergebnis des Zoë. Insofern ist es widersinnig und unnatürlich, dass der Mensch in der technischen Kultur seine limitierten Fähigkeiten über die Natur stellt.

Natur muss gemanagt werden.

Das ist pure Hybris, die uns suggeriert, es sei möglich, die Natur zu beherrschen. Ich werde die Phänomene und Weltbilder der technisch, materiellen Kultur kritisch beleuchten und ihnen die schamanische Wahrnehmung gegenüberstellen.

Die schamanische Wahrnehmung stellt das Leben in das Zentrum ihrer Erfahrung, sie ist vitazentriert. Die Welt ist in dem Leben ein finites Spiel, mit einem Beginn und einem Ende. In dieser Welt können Theorien über die Natur entwickelt werden, sie beherbergt physikalische Erklärungsmodelle, die mit mathematischen Zeichen beschrieben werden. Die Welt hat unterschiedliche Philosophien und Gesellschaftsformen, die sich gegenseitig stützen. Die Welt kann Macht kultivieren und Angst verbreiten oder sie predigt das Glück und die Zufriedenheit. Der Bau von Pyramiden oder die Suche nach dem inneren Kind, der Weltkrieg oder die Oper, Eros oder Logos - alles spielt innerhalb des Lebens auf der Mutter Erde.

Außerhalb ist Nichts.

Es gibt den Blick als Spieler in dem begrenzten endlichen Spiel. Und es gibt den Blick auf das endliche Spiel aus der schamanischen Sicht. Das Spiel ist das Spiel.

Hier ist von der ‚Schamanischen Sicht‘ die Rede, weil das Spiel tatsächlich ohne Beteiligung des Betrachters läuft. Er kann seinen Blick aktiv auf das Ganze oder seine Teile richten. Seine Beobachtung verändert nichts. In diesem Sinne lassen sich vergangene Ereignisse betrachten. Ich kann die schamanische Sicht auf das Weltbild der Machtgesellschaft oder die Physik und die Naturwissenschaften richten. Ich wende meinen Blick auf die historischen Ereignisse oder die Rahmenbedingungen, unter denen Weltbilder entstanden sind. Eine schamanische Sicht auf Kolonialisierung oder die Mythen des Altertums, auf die Krankheiten oder die Ökonomie ist möglich. Sie wird aber die Maßstäbe des Lebens anlegen oder die Wirkungen auf die Natur hinterfragen. Die schamanische Sicht darf die Vorführung aus einer Position außerhalb der Strukturen und Systeme beobachten.

Die schamanische Wahrnehmung ist von der Sicht unabhängig. Sie nutzt nicht das Auge, den Verstand oder das Gehör allein, sondern ist im Geschehen, im Leben. In einem Netzwerk der Gefühle und Eingebungen, der Phantasie und Kreativität, nimmt der schamanisch Praktizierende mehr wahr. Er ist aufmerksam und vertraut auf die Informationen und Hinweise, ohne sie von vornherein als irreal oder unmöglich zu verwerfen. So erhalten die Ereignisse, die natürlichen Entwicklungen und Erlebnisse eine Bedeutung im Leben, die sich auf den ‚ersten Blick‘ nicht rational erklären lässt. Das ist eben die intuitive Rationalität des Beteiligten, der keine Rolle in der Aufführung spielt.

In diesem Sinne werde ich in den nachfolgenden Kapiteln von schamanischer Sicht oder Wahrnehmung sprechen.

Mit der schamanischen Wahrnehmung sieht die Welt anders aus.

Die rationalen Wissenschaftler und Machthaber sind mit einem Boot aufs offene Meer gefahren, weit entfernt von den Ufern ihrer Kompetenz und Möglichkeiten. Das Boot heißt Hybris. Sie missachten und verunglimpfen die am Ufer der Natur Verbliebenen. Nun ist das Boot leckgeschlagen und sie laden die Wesen mit der naturnahen Wahrnehmung ein, das Boot zu besteigen. Mehr noch, sie verlangen von ihnen eine Rechtfertigung, warum sie ein Bild der Welt haben, in dem die Hybris untergeht.

Diese Kritik an der naturnahen, schamanischen Weise der Wahrnehmung ist weder redlich noch sinnvoll. Wird sie von Wissenschaftlern oder Mitgliedern der technisch-materiellen Gesellschaften vorgetragen, wedelt der Schwanz mit dem Hund.

In Bezug auf die vernunftorientierte Denkweise ist die schamanische Wahrnehmung intuitiv rational. Sie erkennt die Regeln der rationalen Denkweise und wissenschaftlichen Erkenntnis. Wahrnehmungen jenseits der rationalen Grenzen aus den Gefühlen oder Eingebungen können übersetzt werden. So wird die Liebe auf Anziehungskraft eingeschränkt, das Wirken der Ahnen auf die Gentechnik oder die e‘a aus dem Soolago als Erscheinungen aus dem Quantensee.

Die Charakterisierung des Denkens als ‚intuitiv‘ erkennt die Grundlegung der Natur für alles Weitere an. In der Kommunikation mit anderen Menschen kann es oft nützlich sein, den Verstand anzusprechen und ihm ein Bild für den Logos zu malen. Die Kommunikation mit anderen Wesen ist auf der grundlegenden Ebene der Gefühle möglich, ebenso wie die Verbindung zu der Gefühlsebene oder der Seele der Menschen.

Die Zoësophie ist in dieser Weise als die Übersetzung der naturgeschaffenen Basisebene in die rationale Kommunikation zu verstehen. Sie fühlt sich dem Eros näher als dem Logos. Logos erklärt, sucht Kausalitäten und entwickelte Pläne. Eros verteilt Liebe und teilt seine Stärke. Er sucht nach Schönheit und findet die Liebe.

[1] Kant: Kritik der reinen Vernunft; Akademische Textausgabe, … Tafel der Kategorien; S. 93

[2] Kant: Träume eines Geistersehers; Hamburg 1975, S. 33. Er nennt sie in seinem Büchlein die Träumer der Vernunft.