Die Wirklichkeit

 

Jedes Wesen lebt in seiner Wirklichkeit, d.h. es agiert darin. Es bewegt sich, es kommuniziert, hegt Erwartungen und ist in Interaktionen mit seiner Welt. Für all das ist die Wirklichkeit die Basis. Deshalb diskutieren wir genauer das Konzept der Wirklichkeit.

 

Aus Wahrnehmungen werden Wirklichkeiten.
An Wirklichkeiten werden Absichten orientiert.
Absichten motivieren zu Aktionen.
Aktionen führen zu Ereignissen.
Ereignisse werden wahrgenommen.
Die nächste Runde der Spirale beginnt.

Für den Menschen galten in den Epochen seiner Existenz auf der Erde unterschiedliche Wirklichkeiten, je nachdem wie er sich selbst in der Natur erlebt hat. Die Naturvölker nehmen sich als ein integraler Teil der Natur wahr. Sie erleben sich in der lebenden Natur.

Aus der materialistischen Sicht ist es schwer einsehbar, wie ein Berg leben soll oder wie ein See lebt. Wir sprechen das an anderer Stelle an und werden erkennen, dass die schamanische Sicht den Bergen, den Seen, den Wäldern ein Leben zuspricht. Sie agieren füreinander und für die Wesen, sie geben dem Leben die Möglichkeiten.

Die technischen Kulturen der Neuzeit stehen außerhalb der von ihnen definierten ‚Umwelt’. Sie leben in mehr oder weniger festen Strukturen und organisieren das Leben am besten in toten festen Strukturen, in denen ihre Physik wirkt - mithin die materielle Seite der Wirklichkeit anbietet. Zwischen diesen Positionen gibt es eine Bandbreite von Abstufungen in den Gesellschaften, die zum Beispiel Götter als Vermittler einschalten oder mystische Gestalten.

Wir besprechen die verabredete Wirklichkeit der materialistischen Welt detaillierter, ihre Herkunft und die Konsequenzen für Wissenschaft und Gesellschaft.

An den wichtigen Zwischenschritten stellen wir die schamanische Position dar mit ihrer ganzheitlichen, naturnahen Sichtweise. Sie enthält und umfasst die materialistische Wirklichkeit. Mit der spirituellen Ergänzung lässt sich das gesamte Leben erfassen.

 

Eine Wirklichkeit wird erfahren und verabredet.

 

Das Konzept der Wirklichkeit

Was ist wirklich? Diese Frage scheint auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Wir werden bei genauerer Betrachtung erkennen, dass es keine allgemein gültige Antwort gibt. Wirklichkeit ist so unterschiedlich wie die Sinne, die zur Wahrnehmung eingesetzt werden. Wirklichkeit ist so unterschiedlich wie die Kulturen, die ihre Grenzen der Wahrnehmung abstecken. Wirklichkeit ist so unterschiedlich wie die Wesen, die sie wahrnehmen. Wirklichkeit ist so unterschiedlich wie das Zeitalter, in dem sie betrachtet wird.

Warum werden wir auf einige dieser Wirklichkeiten einen kritischen Blick werfen?

Unser Leben als Menschen soll schön, erfüllt und glücklich sein. Das ist die Mission, mit der wir hier auf der Erde sind. Aus einer schamanischen Betrachtung, die naturnah und ganzheitlich ist, wird die Antwort unabhängig vor der jeweiligen Kultur lauten: Die Mutter Erde sorgt für Dich und sie ermöglicht Dir ein gutes Leben in ihrer Natur.

In der materialistischen Kultur der Neuzeit ist das gute Leben nicht gesichert. Es gibt Not und Armut, Hunger und Kriege, kranke Menschen, depressive Menschen, Kinderarbeit und Zerstörung der Lebensgrundlagen. Ich kann hier nicht alles aufzählen, was das gute Leben zunichte macht. Schließlich kann sich jeder umschauen, die Nachrichten verfolgen, fühlen in welchen Zwängen er lebt und was die Lebensfreude seiner Umgebung und aller Menschen auf der Welt trübt. Es gibt auch schöne Erlebnisse, glückliche Momente, überwältigende Schauspiele in der Natur. Es gibt künstlerische Aufführungen und Feste der Freude, Liebe unter den Menschen und Zufriedenheit in der eignen Welt.

Jeder, der sich umschaut und seine Welt betrachtet, nimmt seine Wirklichkeit wahr. Das heißt aber, es gibt keine allgemeine Wirklichkeit, die für jedes Wesen gleich ist. Welche Wirklichkeit sollen wir denn zur Grundlage unserer gesellschaftlichen Strukturen und Regeln machen? Auf diese Frage fällt jede Diskussion zurück.

In unserer materialistischen Kultur ist die Induktion zur Grundlage der Naturwissenschaften geworden. Die Rationalisten haben einige Versatzstücke der Deduktion hinzugefügt. Damit wurde das Weltbild der Neuzeit geprägt. Aus diesem Rahmen haben die Ökonomie und die Politik mit den Mitteln der Macht die Teile extrahiert, die zur Verbreitung der Machtkultur brauchbar erschienen.

Der Ausgangspunkt der Erkenntnis ist also die wesentliche Bestimmungsgröße für den Fluch und den Segen unserer Gesellschaft. Das macht die philosophische Grundlage der Erkenntnistheorie zu einem entscheidenden Startpunkt auf dem Weg zum Glück und zur Zufriedenheit im Leben der Menschen und Tiere. Die Ökonomie gestaltet die Natur und was sie gestaltet, hängt entscheidend davon ab, was sie erkennt.

 

Gemeinsame und individuelle Wirklichkeiten

Die Wahrnehmung wirkt auf die eigene Welt. In der Abstimmung mit Anderen wird eine gemeinsame Wirklichkeit verabredet. Eine Wirklichkeit hat Kausalitäten, also Ursachen und zugeordnete Wirkungen. Eine Gemeinschaft braucht Einigkeit über die Kausalitäten, sonst ist kein Zusammenleben in einer Kultur möglich. Kausalitäten werden aus der strukturierten Welt der anderen Menschen übernommen, in den meisten Fällen aus der Umgebung der eigenen Kultur. Der Zusammenhang zwischen einer Ursache und einer Wirkung kann in vielen Fällen der modernen Kultur akzeptiert, aber nicht mehr selbst überprüft werden.

 

Die Welt ist die Bezeichnung für die Wirklichkeit, die der Mensch verabredet. In einem eigenen Traktat wird über die Aufstellung der Welt, das Bild der Welt und die Konsequenzen für die Menschen ausführlich diskutiert. In der Welt kommen die individuellen Wirklichkeiten zusammen. Sie ist eine Schnittmenge der individuellen Wirklichkeiten.

Die Obermenge aller individuellen Wirklichkeiten findet sich in der Natur wieder.

Die Zerstückelung der Welt in separate Teile reiht Kausalitäten aneinander. Eine gemeinsame Wirklichkeit als Obermenge der individuellen Wirklichkeiten ist für keinen Menschen zu überschauen. Die Verstandeskultur erwartet ein Vertrauen in die Überbringer der gemeinsamen Wirklichkeit. Die gemeinsame Wirklichkeit wird verabredet und gelernt. Die eigene Wahrnehmung und Erfahrung werden permanent mit den Kausalitäten der Teilsysteme und den Wirklichkeiten der anderen Menschen verglichen und abgestimmt.

Das eigene Bild der Welt ist zu einem Teil mit menschlicher Ordnung versehen. Das Bild der Welt ändert sich mit neuen Ereignissen, mit neuen Entscheidungen, mit dem Auftreten neuer Mitspieler und neuen Randbedingungen. Es gibt keine von der Wahrnehmung unabhängige ganze Welt, die hinter allen Wirklichkeiten steht und die nur noch nicht strukturiert ist. Der Mensch entreißt seinen kreativen Möglichkeiten nach und nach mit jeder Entscheidung und Akzeptanz von Ursachen und Wirkungen die Ganzheit und packt Teile davon in begrenzte Subsysteme. Innerhalb der jeweiligen Grenzen gelten die Regeln einer konventionellen menschlichen Struktur. Außerhalb der Grenzen liegen die kreativen Möglichkeiten in denen die natürlichen Ordnungen wirken, die vom menschlichen Verstand noch unerreicht sind.

Die kreativen Möglichkeiten sind vom Gefühl erreichbar. In manchen Zusammenhängen oder Kommunikationen wird der unendliche Urgrund der menschlichen Welt auch die "Seele" genannt. Beide Eigenschaften finden sich in der individuellen Welt wieder.

Jede Welt hat also einen kreativen Teil der natürlichen Ordnung und einen konventionellen Teil der von den Wesen auf einfache Zusammenhänge reduzierten Strukturbausteine.[1]

Jedes Wesen hat in seiner Welt einen strukturierten, begrenzten Teil, in dem die Möglichkeiten eingegrenzt sind. In der allgemeinen Form über alle Wesen in der Natur sind die Möglichkeiten von der Wahrnehmung abhängig. Wenn wir also sagen: „Hier sind Deine Möglichkeiten – nutze sie“, dann ist dieser Satz nur unter den Randbedingungen gültig, die das Wesen erkennt. In der menschlichen Gesellschaft sind diese Randbedingungen sogar von der Kultur anhängig. Man sieht nur das, was man sucht.

 

Die schamanische Wirklichkeit betrachtet das Leben mit den Gefühlen, der Seele und der Spiritualität. Sie nimmt sowohl die spirituelle Seite wahr, als auch die materielle. Die Reduktion auf die materialistische Weltanschauung ist ein kulturelles Phänomen. Sie wurde in der Neuzeit vereinbart.

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Die marterialistische Wirklichkeit

Bleiben wir zunächst in den Randbedingungen der menschlichen Kulturen, genauer bei den Verstandeskulturen als Spezialfall.

Die Ursachen und Wirkungen sind akzeptiert, die Konventionen verabredet, die Kommunikationswege geebnet und die Rollen verteilt. Der strukturierte Teil der Welt hat einen Beginn und ein Ende. Die Zeit und der Raum sind quantifiziert und alle Aktionen innerhalb der Struktur haben ein messbares und wahrnehmbares Ergebnis. Viele Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen aus der Unendlichkeit der kreativen Natur werden gemessen, bewertet und verendlicht.

Das Raumgefühl wird in die Dimensionen des Raumes strukturiert. Das Zeitgefühl wird in die Uhrzeit gepresst. Die Energie oder die Kraft des Menschen werden in Kilowatt, Pferdestärken oder Joule gemessen. Die Freiheit wird als Freiheit innerhalb von Grenzen interpretiert. Einige Gefühle entziehen sich der Quantifizierung.

Die Seele ist ein sehr abstrakter Begriff mit vielen Deutungen und keinem Ansatz zur Strukturierung, Begrenzung, Lokalisierung, Bewertung oder Einteilung.

Die Gefühlsebene unterliegt der natürlichen Ordnung. Das ist der kreative Teil der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist ohne Regeln, es ist das Reich der Möglichkeiten. Die natürliche Ordnung ist unendlich.

 

Die geordnete Wirklichkeit ist endlich, sie wird verabredet.

 

Die Einigung auf eine gemeinsame Welt mit Wirkungen und Beobachtungen erschafft die geordnete Wirklichkeit. Darauf baut der Mensch seine Kommunikation auf und aus dieser Welt schließt er gemeinsam mit Anderen auf die Ursachen und Wirkungen in der endlichen Welt. Diese geordnete Welt hat Grenzen. Zur Verteidigung der Grenzen schließt der Mensch aber auch Ursachen und beobachtete Wirkungen aus. Der Ausschluss kräftigt die Struktur innerhalb der Grenzen. Individuelle Kausalitäten und Wahrnehmungen erschaffen eigene Wirklichkeiten. Selbst wenn sie der eigenen Logik folgend in der eigenen Welt anerkannt werden, kann die Gesellschaft sie aus der gemeinsamen Welt ausschließen. Es gibt zu der individuellen Wirklichkeit dann keinen Konsens.

Der Ausschluss ist schwer zu verteidigen und braucht eine große Macht.

 

Die schamanische Wirklichkeit ist zunächst individuell. Sie wird nicht zur Diskussion oder Abstimmung gestellt. Der schamanische Arbeiter kann sie kommunizieren und damit teilt er sie mit anderen Wesen. Auf der Basis der Gefühle gibt er seine Wirklichkeit an andere weiter. Die Absicht der schamanischen Kommunikation ist die Synergie. Mit dem Geben erweitert der Schamane die Möglichkeiten der Anderen, weil er sie an seiner Wirklichkeit teilhaben lässt.

Die Wahrnehmung

Eine der berühmtesten Fragen zu Wahrnehmung und Wirklichkeit ist die von Bishop Berkeley: "Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand ist in der Nähe, macht er dann trotzdem ein Geräusch?" Vielerlei Antworten sind dazu gegeben worden und wir wollen diese nehmen: "Der Baum setzt die Luft in Schwingungen und sobald sie auf ein empfangendes Ohr trifft, entsteht das Geräusch." Dabei ist es leicht vorstellbar, dass ein sehr individuelles Geräusch entsteht, je nachdem wie das Ohr das Geräusch aufnimmt und der Organismus (oder das Gehirn) diese Signale in eine Empfindung umwandelt. Die Frage ob und wie das Geräusch individuell gehört wird, ist nicht mehr zu klären.

Auch Albert Einstein ist sich seiner Sinneseindrücke nicht sicher gewesen, denn er fragte seinen Freund Pais auf einem Nachtspaziergang er solle ihm versichern, dass der Mond noch da sei, wenn er die Augen schließe.[2] Albert Einstein lässt sich seine Vermutung von einem Freund bestätigen, dem er vertraut.

Berkeley fordert die Ohren heraus. Der fallende Baum versetzt die Luft in unterschiedlichen Intensitäten in Bewegung. Erst eine komplexe Wirkung auf unser Trommelfell synchronisiert die Schwingungen in unserem Ohr mit den Schwingungen aus der Luft um den Baum. Ein Organismus oder ein materieller Gegenstand bewegt die Luft und übermittelt die Signale. Koppeln wir uns an den Träger oder Vermittler an, dann nehmen wir die Signale auf und verwandeln sie in etwas, das wir als Geräusch oder Ton bezeichnen. Die Antwort zu Berkeleys Frage ist der von Einstein ähnlich: Schicke einen Freund deines Vertrauens zu dem Baum und lass ihn berichten, ob es ein Geräusch gab. Dieses Geräusch ist dann Realität oder Wirklichkeit.

 

Menschliche Realität entsteht erst durch Kommunikation.

 

In der Tradition der naturnahen Völker (z.B. Lakota) braucht es drei Personen, die ein Ereignis bestätigen. Wenn am Feuer von den Erlebnissen berichtet wurde und drei Teilnehmer an einer Aktion die Beobachtungen bestätigen, wird die Erzählung Realität. Der Mensch verabredet einige Konventionen und generiert damit eine gemeinsame Einigung über Realität oder Wirklichkeit. Darauf basierend lassen sich weitere Einigungen analog schließen. Innerhalb dieser vereinbarten Wirklichkeit gibt es zum Beispiel eine Kausalität: Wenn dies ein Geräusch ist, mit dem ein Baum umfällt, dann fällt ein Baum um, wenn ich dieses Geräusch höre.

Oder auf Einsteins Verabredung zur Realität bezogen: Wenn der Mond noch da ist, wenn ich die Augen schließe, dann ist auch der Baum noch da, der Freund noch da, alles noch da. Ich wache also am nächsten Morgen nach dem Schlaf in der gleichen Welt auf, die ich mit dem Schließen der Augen ausgeblendet habe.

Die verabredete Wirklichkeit

Die Verabredungen zur Wirklichkeit sind Teil der Erziehung oder Sozialisierung des Menschen. Demnach gibt es eine eigene Wirklichkeit, über die das Individuum nicht zu sprechen braucht und eine gemeinsame Wirklichkeit, über die es sich mit Anderen einigt. Die eigene Realität wird erlebt und die gemeinsame Realität wird vereinbart. Damit folgt aus dieser Abstufung, dass die eigene Realität umfangreicher ist, als die vereinbarte, die überprüfte Realität. Ohne eine eigene Wirklichkeit gibt es keine gemeinsame, aber ohne eine gemeinsame Wirklichkeit gibt es sehr wohl eine eigene.

 

Die schamanische Wahrnehmung bezieht die Gefühle mit ein. Wenn ein Ereignis beobachtet wird, ein Partner etwas sagt, oder der Blick von etwas angezogen wird, dann achtet der aufmerksame Schamane auf die Gefühle, Aufmerksam durch das Leben zu gehen, bedeutet nicht, besonders gut hinzuschauen, sondern den Gefühlen zu vertrauen, die jede materielle Wahrnehmung begleiten. Das Leben kommuniziert mit den Gefühlen und die Gefühle kommen von Herzen.

Die eigene Wirklichkeit ist die Realität erster Ordnung. Sie ist reine Qualität, bevor sie kommuniziert wird. Als Qualität ist sie vermehrbar und unendlich. Die über Worte, Bilder, Gesten, Blicke, Berührungen vermittelte Realität ist endlich, denn sie ist auf die endlichen Ausdrucksformen des Wesens reduziert. Die können von den eigenen Wahrnehmungen abweichen.[3] An anderer Stelle habe ich den Qualitäten den neuen Begriff der ‚Ramsdera‘ gegeben. Er ist auf die menschliche Wahrnehmung der unendlichen Qualitäten bezogen.

Aus der Endlichkeit der Kommunikation geht es wieder zurück in die Unendlichkeit der individuellen Realität des Anderen, der die kommunizierte Realität in die seine übersetzt und in sein Bild der Welt einordnet. Er verbindet sie mit seinen Gefühlen in seiner Wirklichkeit. Auf diesem Weg von der Qualität in die Quantität und wieder zurück in eine andere personelle Qualität kann manches schief gehen und somit zu ungewollten Täuschungen oder Missverständnissen führen.

In vielen Fällen täuschen uns schon die Sinne, sie sind unpräzise, reichen nicht weit genug, kommen aus einem anderen Bild der Welt und sind von den Erwartungen beeinflusst.

 

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Gleiche Erscheinungen werden unterschiedlich erlebt. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen die Mehrdeutigkeit oder gar Unzuverlässigkeit unserer Sinneswahrnehmungen oder auch das Fehlen spezieller Sinne. Ein Delphin "sieht" mit Ultraschall, ein Hai spürt elektrische Ladungen, eine Fledermaus ist ein fliegendes Sonarsystem und die Zugvögel orientieren sich am Magnetfeld. Der Mensch kann sich nicht einmal vorstellen, wie solche Wahrnehmungen zustande kommen und zu welcher Wirklichkeit sie führen.

Die Zusammenstellungen unserer Sinneseindrücke sind Ergebnis der evolutionären Anpassungen an die Möglichkeiten, die aus der Natur für die Spezies bereitgestellt werden. Auf der Basis unserer Sinne ist unsere Wirklichkeit konstruiert. Wir erleben damit zu jedem Augenblick das Bild unserer Realität, der menschlichen Realität.

Die innere Wirklichkeit

Bleiben wir bei der Realität erster Ordnung und berücksichtigen die Wahrnehmung anderer Signale: "Auf einer schamanischen Reise nehmen wir die Signale der Seele wahr." Bevor die Wahrnehmung ausgesprochen wird, ist sie die Realität erster Ordnung. Woher auch immer das Signal gekommen ist, es gehört zu der eigenen Qualität, nämlich der eigenen Empfindung. Dabei ist es für die Empfindung unerheblich, aus welcher Quelle die Signale erschienen sind. Wir können die Empfindungen neben andere stellen und erhalten dann mehrere Aussagen über Wahrnehmungen: Die Seele sendet Signale, das Licht transportiert Signale und die Luft überträgt Signale. Aus Wahrnehmungen wird ein Bild, das zu unserer individuellen Wirklichkeit passt und von uns nicht angezweifelt wird. Wir haben in dem einen Fall das Bild eines fallenden Baumes und in dem anderen Fall das Bild einer eingesperrten Seele.

 

In der schamanischen Kommunikation bleiben wir auf der Gefühlsebene und teilen die Empfindungen mit anderen Wesen auf der gleichen Ebene. Ein Umweg über das gesprochene oder gar geschriebene Wort ist nicht notwendig. Wir übertragen die Informationen nicht, wir teilen sie.

Nun kommt jemand hinzu und zweifelt das an: "Der Baum macht kein Geräusch und die Seele sendet keine Signale." Wie will er seinen Zweifel begründen? Er wird das aus seinem eigenen Erleben und seiner Welt heraus nur als andere Kausalität in seiner Wirklichkeit begründen können. Aber das ist trivial, denn jeder hat seine eigene Wirklichkeit. Er beruft sich gegebenenfalls auf Ausgrenzungen der Kultur. Die Vereinbarung ist: "Wir erkennen eine bestimmte Art der Wahrnehmung an, eine andere Art schließen wir aus."

In diesem Beispiel heißt das: "Diesen Baum kann ich sehen, fühlen oder hören, wenn er umfällt. Ein anderer Mensch kann ihn auch sehen, fühlen oder hören. Wir bezeichnen diese Erscheinung als 'Baum'. Das ist unsere Verabredung und damit ist der Baum wirklich."[4] Eine wichtige Voraussetzung ist damit unausgesprochen impliziert: In kulturellen Konventionen werden die Wirklichkeiten begrenzt, die Sinne wahrnehmen dürfen. Wir kommen auf diese Eingrenzung noch zurück.

Der Baum sendet aber 'in Wirklichkeit' sein Bild nicht aus. Er reflektiert das Licht und er reflektiert die Luft. Diese Reflexe treffen auf das Auge und auf das Ohr des Menschen. Auf eine uns unbekannte Weise wird daraus in dem Menschen ein Baum. Die Entstehung des Baumes im Menschen wird noch komplizierter, wenn man diesen Vorgang im Gehirn lokalisiert. Wo soll das sein und wie kommt es dorthin? Die vereinbarte Erklärung ist, dass Nerven die Informationen übertragen und dass sie dann 'da' sind - wo sind?

Wie unterscheidet sich diese Wirklichkeit von dem geträumten Baum? Der Mensch hat die Augen geschlossen, fühlt den Baum nicht und hört ihn nicht fallen. Trotzdem ist die Information 'da' und vermutlich haben die Nerven sie sogar übertragen. Ob diese 'Erscheinung' des Baumes aus der Wirklichkeit entstanden ist oder aus dem Traum, lässt sich allein von dieser Person nicht feststellen. Er kann einen Zeugen befragen, der nicht geträumt hat.[5] Wenn dieser den fallenden Baum nicht wahrgenommen hat, dann spricht sehr viel dafür, dass der Baum nur im Traum gefallen ist. Das Individuum erhält Sicherheit, wenn viele Menschen seine Wahrnehmung bestätigen. Für ein gemeinsames Bild der Welt brauche ich die Schnittmenge der individuellen Wirklichkeiten.

 

 

Objektive Wirklichkeit ist eine Fiktion.

 

 

In der schamanischen Wahrnehmung gibt es die gesamte Wirklichkeit, die aus den eigenen Gefühlen und inneren Bildern resultiert. Sie wird nicht infrage gestellt, sondern sie ist die Basis für Handlungen und eigene Überzeugungen. Sie braucht nicht beschrieben zu werden. Innerhalb gibt es eine Wirklichkeit, die andere Menschen ebenso wahrnehmen und die man teilweise als die ‚gewöhnliche Realität‘ bezeichnet. Sie ist beschreibbar.

Die gemeinsame Wirklichkeit

An einem einfachen Beispiel erkennen wir, wie schwierig es ist, Einigkeit über die Wirklichkeit zu erlangen. Viele Nebenbedingungen müssen festgelegt und gültig sein. Nehmen wir an, wir wollen eine Gruppe auf eine gemeinsame Basis versammeln, von der aus wir dann gemeinsam agieren. Ein komplexes Beispiel ist: ‚Von einer naturwissenschaftlichen Basis aus wollen wir den Menschen ein gutes Leben ermöglichen.‘ Halten wir es jedoch erst einmal einfach:

Eine Menschengruppe die ungefähr die gleichen Funktionen von Nervenbahnen haben und die meisten ihrer Sinne einsetzen und sich darüber verständigen können und sich über den Zeitpunkt und die Begleitumstände einig sind und von denen keiner die Unwahrheit sagt, möchten eine gemeinsame Basis verifizieren.

Wenn die Zusammensetzung der Menschengruppe sehr heterogen ist, braucht man ziemlich viele Personen, bevor man ein gemeinsames Weltbild verabreden kann. Nehmen wir für die Verifizierung der Aussage: "Letztens ist dort drüben ein Baum umgefallen." eine Gruppe an, in der ein Blinder ist, der andere Funktionen der Nervenbahnen hat, ein Vergesslicher, der das Bild nicht mehr abrufen kann, ein Stummer, der seine Wahrnehmung nicht mitteilen kann, ein Anderssprachiger, der sich nicht verständlich machen kann, ein Mensch mit einem anderen Zeitgefühl, jemand der von einem Traum spricht, ein Anderer, der einen Film darüber gesehen hat, ein Baby und ein Autist. Es steht 10:1 gegen den Menschen, der die Aussage verifizieren will.[6] Trotzdem ist das Ereignis des gefallenen Baumes jeweils eine individuelle Wirklichkeit bei 10 Menschen. Eine gemeinsame Wirklichkeit, also ein Ereignis in der Welt, gibt es dazu nicht.

Und das ist der positive Fall, in dem ein Ereignis bestätigt werden soll. Deutlich schwieriger wird es, wenn ein Nicht-Ereignis verifiziert werden soll. Angenommen die Aussage sei: "Letztens ist dort drüben kein Baum umgefallen." Das wird aus verschiedenen Gründen bei einer heterogenen Gruppe schwierig zu verifizieren sein. Zum einen müssen alle Hörer davon überzeugt sein, dass der Aussagende nicht zu den oben zitierten Personen mit Einschränkungen der Wahrnehmung oder Kommunikation gehört.

Dann muss es dort drüben Bäume geben, die hätten umfallen können, sonst ist die Aussage in sich schon sinnlos. Zum anderen muss die Bedeutung von 'letztens' eingegrenzt werden, wenn der Ausschluss eines Ereignisses definiert werden soll. Und schließlich müssen Alle schon einmal in Wirklichkeit, im Traum oder über Kommunikation erlebt haben, wie ein Baum fällt, sonst haben sie keine Vorstellung von dem Ereignis, das nicht stattgefunden hat.

Die oben beispielhaft genannten Einschränkungen für die positive Feststellung einer Wirklichkeit gelten darüber hinaus in dem negativen Fall zusätzlich. Soll Einigkeit über einen Ausschluss aus der Wirklichkeit erzielt werden, dann darf die Menschengruppe keinen Blinden, keinen Stummen, keinen Anderssprachigen oder Kulturfremden, usw. enthalten, der keine Vorstellung von dem Inhalt der Aussage hat. Jeder muss im Gegenteil eine gemeinsame Vorstellung von dem "Nichtwirklichen" haben.

Gehen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, dann sehen wir wie schwierig es ist, eine Empfindung aus der verabredeten Wirklichkeit auszuschließen. "Die Seele sendet Signale", ist genau so wirklich wie: "Die Luft sendet Signale." Will eine Gruppe von Menschen eine Aussage als gültig verabreden und die andere nicht, dann muss sie eine klare Vorstellung von der Seele haben, von der Luft und von der Wirkung von Signalen. Und wie wir oben beschrieben haben, muss das sowohl für die Bejahung als auch für die Verneinung zutreffen. Hat ein Individuum selbst die Signale der Seele noch nicht wahrgenommen und erfahren, dann schließt es sich selbst aus, indem es erklärt: "Ich gehöre zu der Gruppe, die die Signale nicht wahrnehmen oder nicht kommunizieren kann." Eine Aussage: „Diese Signale gibt es nicht“, ist unzulässig.

Wie eingangs gesagt, braucht es Macht, individuelle Wirklichkeiten einzuschränken. Der Machthaber zieht eine Grenze um die vereinbarte Welt. Er kann die sogenannten verstandesgetriebenen Erkenntnisse verwenden, um die ihm genehmen Grenzen zu alimentieren. Die Zerstörung der Natur, die Vernichtung von Lebewesen, Kolonialismus, Ausbeutung von Menschen, jede Form der Unterdrückung und Freiheitsberaubung, Krieg und Gesinnungsterror werden mit dem Verstand verteidigt. Der Verstand wird zu einer vorgeschobenen Marionette der Macht

 

Die Verstandeskultur ist eine Machtkultur.

 

In Wirklichkeit gibt es so viele Wirklichkeiten wie Menschen.

 

 

In der schamanischen Arbeit werden die Signale der Seele empfangen und sind in Bildern, Texten, Geschichten oder auf anderen Ebenen wahrnehmbar. Sie sind ein Teil der schamanischen Erfahrung und ergänzen die kulturell verabredete Wirklichkeit. Die schamanische Wirklichkeit steht nicht zur Diskussion. Sie wird direkt im Bewusstsein erlebt. Das Vertrauen in die Spirits macht die Abstimmung mit anderen Menschen überflüssig.

[1] Finite and Infinite Games, James P. Carse beschreibt diese Teile als zwei Arten von Spielen: finite Spiele, deren Zweck darin besteht, das Spiel zu gewinnen und infinite Spiele, deren Zweck darin besteht, das Spiel am Laufen zu halten.
[2] Die Frage war vermutlich auch eine Anspielung auf die damalige Hypothese der Quantenphysik, wonach die Materie erst entsteht, wenn sie beobachtet wird.
[3] Wir können hier einen kleinen Exkurs zu den speziellen Fähigkeiten des Menschen einfügen - die Fähigkeit zu lügen. Eine Lüge kommt nicht aus der individuellen Realität, aber sie kann kommuniziert werden. Mit der Lüge verschwimmen die Übergänge zwischen der eigenen Realität und der gemeinsamen Realität. Sie verschwimmen mit der Kommunikation, die eine Realität erster und zweiter Ordnung generiert. Die Woodabe, ein Nomadenstamm in Afrika, stehen sehr kritisch der Kommunikation aus zweiter Hand gegenüber. Sie berichten nicht, was sie gesehen haben, wenn es für die Geschichte über das eigene Empfinden, die eigene Realität unwichtig erscheint. Bei den Lakota in Nordamerikas Prärie müssen erlebte Ereignisse zum Beispiel bei einem Vision Quest von zwei anderen Teilnehmern bestätigt werden, bevor sie eine anerkannte Wirklichkeit werden. Tiere haben keine Realität zweiter Ordnung, ihre Gesten und ihre Laut beziehen sich immer auf das eigene Erleben, versuchen immer, ihr eigenes Erleben mit anderen zu teilen.
[4] S. dazu auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787, S. 50, „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.“
[5] Wie Albert Einstein seinen Freund Pais gefragt hat, ob der Mond noch da ist, wenn er die Augen schließt.
[6] Über die menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis sind viele Bücher geschrieben worden, viele Philosophen haben darüber nachgedacht und ihre Theorien aufgestellt. All das soll hier nicht wiederholt werden, geht es doch primär um die Frage, wie Wirklichkeiten verabredet oder ausgeschlossen werden.