Atomistik

 

In der technischen, materialistischen Kultur wird die Welt in Teilen betrachtet, die hierarchisch geordnet sind. Die Hierarchien werden nach Größen gebildet, z. B. in der Systematik Atom, Molekül, Zelle, Organ. Man kennt auch die Einteilung nach Stufen, z. B. Steinaxt, Gartengeräte, Maschinen, Computer. Andere Zusammenhänge werden nach Ebenen sortiert, z. B. Personen, Familien, Kommunen, Gesellschaften, Kulturen. Diesen und einer Vielzahl von ähnlichen Festlegungen ist gemeinsam, dass sie dem Menschen eine Struktur vorgeben, in die er alle ihm bekannten Phänomene einordnet. Eine Ordnung, die aber auch dazu benutzt wird Wertungen abzugeben, Wissen einzugrenzen und zu konzentrieren, Betätigungen abzugrenzen und Spezialistentum zu perfektionieren.

Die Teilung der Ganzheit wird von der industriellen Kultur akzeptiert; sie bildet geradezu die Grundlage des rational materialistischen Weltbildes. Sie hat der Gesellschaft und dem Einzelnen enorme Rationalisierungsvorteile geschaffen und scheint unverzichtbar zu sein. In der Atomisierung der Aufgaben liegen die Chancen für eine Fokussierung der Kräfte, die einhergeht mit einer Beschränkung. Die Entwicklung der Technik ist kurzfristig deshalb erfolgreich, weil auf die gleichzeitige Weiterentwicklung der zugehörigen spirituellen Komponente verzichtet wurde. Die Entwicklung einer Herz-Lungen-Maschine kann nur dann erfolgreich weitergeführt werden, wenn die Ingenieure ihre Schaffenskraft nicht noch in die Analyse der psychischen Beschaffenheit der Menschen einsetzen, die an solche Geräte angeschlossen werden.

Die Aufteilung der Materie in Atome war eine kosmologische Theorie der griechischen Philosophen des Altertums, vor allem des Leukippos und Demokrit.[1] Die Idee wurde in dem naturwissenschaftlichen Materialismus der Neuzeit wiederbelebt, allerdings durchlief sie eine Metamorphose, denn nun sollten die kleinsten Teile zu größeren Einheiten zusammengebaut werden können. In der ursprünglichen Auffassung der griechischen Stoiker waren die Atome lediglich eine Gegenposition des ewigen Seins zu dem Fließen, dem ewigen Werden und Vergehen. Die Atomistik der Griechen war eine gedankliche Übung zu den Eigenschaften der Materie, sie beanspruchte nicht aus den Teilen ein funktionsfähiges größeres Ganzes herstellen zu können. Und das ist in der Naturwissenschaft auch nicht gelungen, sofern das Objekt ihrer Forschung lebendig war. Der Aufbau der kleinsten Teile zu einem neuen natürlichen Ganzen mangelt es an dem vorher wegdefinierten Spirituellen. Ist der Geist ebenfalls atomistisch und an die Atome gebunden oder gar in Ihnen enthalten? Auf welcher Ebene des Zusammenschlusses soll er denn ‚erscheinen‘? Kommt er bei den Molekülen oder erst bei den Zellen oder gar den Organen ins Spiel?

Lebendes wächst, Totes wird vermehrt

Nichts Lebendes kann aus materiellen Atomen zusammengesetzt werden. Eine in diesem Sinne materielle "tote" Struktur kann zu einer anderen toten Struktur aggregiert werden. Etwas "Totes" kann mit den Methoden der technischen Wissenschaft zu etwas anderem "Toten" zusammengebaut werden. Etwas Lebendes an toten Strukturen kann nur die Natur erschaffen.[2]

Der Mensch bringt mit neuen toten Technologien zusätzliche Kohlenwasserstoffe, Ozone oder Stickstoffe in die Atmosphäre. Er erzeugt Schwermetalle, Plutonium und andere Abfallstoffe. Er greift massiv in den Naturkreislauf ein, indem er neuen Tod bringt und stört das Gleichgewicht der Natur auf der Erde. Die Versuche durch neuerliche Aktionen gegenzusteuern und ein Gleichgewicht wiederherzustellen sind ein Anerkenntnis der Untragbarkeit der selbst verursachten Störungen. Sie dokumentieren wie wenig der Mensch die wirklichen Zusammenhänge der Natur versteht. Obwohl die einzelnen Produktionsprozesse nach wirtschaftlichen Maßstäben optimal verlaufen, führen sie auf der höheren Ebene der Biosphäre vom Gleichgewicht weg.

Bei der Trennung der naturgegebenen Ganzheit in seine Teile ist sie getötet. Mit einer neuerlichen Zusammenfügung zu einem Ganzen, kann nichts Lebendes  in seiner ursprünglichen Ausgewogenheit und in seinem natürlichen Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Der Versuch in unserer technischen Kultur, selbstdefinierte Teile zu einem besseren Ganzen zusammenzufügen, als die Natur es in den Jahrmilliarden ihrer Entwicklung vollbracht hat, zeugt in eindrucksvoller Weise von der Ignoranz und der Überheblichkeit des modernen Menschen.

Es gibt scheinbar gelungene Versuche aus Teilen etwas Lebendes zusammenzufügen oder etwas Anderes zu generieren. Knochen können zusammengefügt oder ersetzt werden, in der Gentechnik erzeugt der Mensch etwas Neues, Züchtungen können eine Spezies verändern, lebendes Gewebe kann im Labor vermehrt werden. Alle diese Eingriffe sind jedoch nur unter Mithilfe der Natur möglich. Kein noch so kleines und einfaches Lebewesen wurde jemals aus Atomen zusammengesetzt und zum "Leben erweckt". Kein Fels kann einen Fels basteln, keine Kuh kann eine Kuh zusammensetzen, kein Mensch kann einen Menschen bauen und kein Lebewesen kann Leben erzeugen - diese Unmöglichkeit wird nie aufgelöst.

Die Festlegung der Teile wird aus der Sichtweise des Menschen und der Relation zu seinen Größenvorstellungen getroffen. Die Suche nach den kleinsten Teilen wird ebensowenig zu einem finalen Ergebnis kommen können, wie die Suche nach den größten Zusammenhängen. Auf der Ebenen des Menschen erscheinen subatomare Teilchen kaum vorstellbar klein und doch findet man innerhalb des Atoms ein ganzes Universum von wesentlich kleineren Teilen. In Relation dazu ist eine Zelle, oder gar ein ganzes Lebewesen unvorstellbar komplex. Die Welt aus dem Blickwinkel eines Atoms kann an der Grenze einer Zelle enden, möglicherweise mit dem unsicheren Gefühl, dass es darüber noch eine größere Ordnung gibt. Die Welt aus der Sicht der Milchstraße könnte beim Lebewesen auf der Erde enden, mit dem unbestimmten Gefühl, dass es noch etwas Kleineres gibt.

Der Mensch steht zwischen diesen Extremen in einer Größenordnung, die wir ganz gut quantifiziert und analysiert haben. Auf der menschlichen Ebene haben wir eine Ordnung definiert, in der Naturgesetze gelten sollen. Die Ordnung ist aber eine Verstandesgeburt der Eingrenzung des Lebens auf materialistische, quantifizierbare Grundlagen.