Welt

 

Vermessene Welt

In der heutigen Welt wird alles gemessen und bewertet und wir gehen sogar so weit zu glauben, dass eine andere Welt ohne die Vermessung gar nicht denkbar oder möglich wäre. Außerhalb der messbaren Phänomene gibt es keine Naturwissenschaft.

Messen und vergleichen, werten und bestimmen kommt nur in der Menschenwelt vor. Bienen messen keine Abstände und haben keine Zeitkalkulation, in der sie ihre Suche nach einem neuen Ort für die Bienenbrut abgeschlossen haben müssen. Selbst in den menschlichen Kulturen und Gesellschaften ist die Entwicklung einer anthropozentrischen Wissenschaft eine moderne, neue Art und Weise, die sich früher nicht durchgesetzt hat und die nur eine Möglichkeit unter all den Organisationsformen des Zusammenlebens in der Geschichte der menschlichen Entwicklung darstellt. Naturvölker sehen die Natur als Grundlage ihrer Welt an und sie würden sich nicht gegen sie erheben, sie verkaufen oder ausbeuten. Das Leben mit und in der Natur hat diese Völker über viele Jahrtausende in ihrer Kultur erhalten. Das Vertrauen in die Natur und in ihre Liebe bestimmte den Umgang miteinander in den Aufgaben des Zusammenlebens. Das Leben nutzte das Leben, also die lebenden Pflanzen und Tiere und in diesem Sinne bekamen die Steine, die Flüsse, die Wüste oder die Berge auch ein Leben, eine Seele.

Alles lebt.

Die Natur sorgt für das Leben, also warum sollten wir etwas planen, das in Zukunft nur dann eintreten kann, wenn die Randbedingungen des geplanten Ereignisses günstig ausgerichtet sind und die Möglichkeit zulassen. Oft sind es doch Randbedingungen, die wir gar nicht kennen, deren Eintreten ungewiss ist oder von den Aktionen anderer Wesen abhängig ist. Um die Störungen der Pläne von diesen Unsicherheiten zu reduzieren, werden die Randbedingungen bei der Planung konstant gesetzt.[12] Sie werden als unveränderlich innerhalb des Weltbildes angenommen, was eine planerische Aktivität auf die Gültigkeit und den Bestand des aktuellen Weltbildes reduziert. Damit grenzen wir die geplanten Entwicklungen auf den Bestand des Bildes der Welt ein und versuchen, die Welt hinter dem Bild konstant zu halten. Die Welt ändert sich allerdings, unabhängig von dem Bild, das wir auf sie legen. Das inkorporiert die Enttäuschung direkt von Beginn an in die Planung.

Gehen wir nochmals vor diese Erkenntniskette zurück in das Leben ohne quantifizierte Voraussetzungen, Bilder und Erwartungen. Wir leben wie alle anderen Wesen auch und die Natur sorgt für uns. Wir vertrauen der Natur und streben unserer Mission nach, glücklich zu sein. Planung ist unnötig, jedenfalls keine Planung in eine ungewisse Zukunft. Sicher gibt es immer eine antizipatorische Aktivitätshaltung. Wenn wir gehen, haben wir in den meisten Fällen ein Ziel vor Augen, Geschlechtsverkehr wird wegen des Spaßes im Rahmen der Mission zum Glücklichsein vollzogen, aber wir können auch nach neun Monaten die Geburt eines Kindes erwarten.

Im Vertrauen auf die Natur erwarten wir, dass das Quellwasser trinkbar und gesund ist. Für diese Weise des Lebens bedarf es aber keiner Berechnung und es ist nicht einmal hilfreich, wenn wir uns um die Bestimmung der Zeit oder des Raumes kümmern. Diese Energie in den Aufbau und das Festhalten an einem Weltbild ist aus Sicht der Natur und für das Leben verschwendet.

Der Verstand des Menschen, der für den Austritt aus dem Paradies[13] und die Erringung überlebenswichtiger Vorteile verantwortlich ist, bringt gleichzeitig seinen Nachteil mit, indem er den Menschen in seiner Gesellschaft und Kultur dazu verleitet, ein Weltbild aufzubauen und zu verteidigen, das niemandem hilft - am wenigsten der Natur. Aus dieser Aufspaltung zwischen Welt und Bild leiten sich dann die großen Fragen der Menschen ab.[14]

Welches Bild der Welt der Mensch auch konstruiert, es bleibt ein Bild der Welt. Ist das Bild unzutreffend, dann gibt es davon unbenommen das Leben. Ist das Bild unvollständig, dann wird der Mensch trotzdem leben. Ist das Bild eine Verzerrung der Wirklichkeit, dann betrifft es zwar die Menschen mit ihrer Wirklichkeit, aber ohne diese Welt wird die Natur unbeeindruckt weiter vom Leben genährt.

Die Welt kann abtreten.

Die Welt des Menschen steht für einen wichtigen Teil der Rahmenbedingungen. Die Welt prägt das Ich des Menschen. Das Ich, oder das Ego, ist seine Wahrnehmung der Welt. Der Mensch kommuniziert mit dem Ego und er agiert mit dem Ego. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das Ego das wesentliche Untersuchungsobjekt der Psychoanalyse ist. Das Ego wird analysiert und behandelt. Das Ego reflektiert die Welt. Der Kern des Ego ist das (wahre) Ich, das ich das ‚Selbst‘ nenne. Im Fokus der schamanischen Arbeit steht das Selbst stärker und wichtiger als das Ego. Deshalb ist der schwierige Part in der spirituellen Arbeit, das Ego zu reduzieren, um als Medium durchlässig zu sein.

Die Wechselwirkungen des Ego mit der Welt werden von Rorty analysiert. Er verwendet den Begriff der Welt ebenfalls für die physikalischen Teilaspekte aus der Welt der Erscheinungen.[15] Er zeigt den Weg der Weltbilder an Übersichten auf, die alle das Paradigma einer inneren Welt des Ich oder des Leibes in Schichten oder Strukturen aufbauen. Diese Schichten stellt er den Rahmenbedingungen einer Welt der Materie gegenüber und macht die Wechselwirkungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Rorty schreibt, dass ‚die Welt der Physik überantwortet wurde‘ und für die Philosophie nur das ‚Reservat des Ichs‘ blieb. Die Kausalwirkungen mit dem Körper, der das Ich beherbergt sind zum gemeinsamen Forschungsfeld der Philosophen und Physiker geworden.

In einer schamanischen Sicht auf das Leben gibt es keine Trennung zwischen der Seele und dem Körper. Der Körper ist das Sprachrohr der Seele, über ihn hat sie sich materialisiert und spricht zum Menschen. Die Welt kann nicht nur materialistisch sein. Und die Materie des Menschen kann schon gar nicht das Zentrum der Welt sein, wenn sie lediglich ein Anhängsel der Seele ist.

Der Mensch hat kein Leben ohne die Seele.

So werden die Grenzen der Welt wieder aufgebrochen, die mühsam in der Renaissance und der frühen Neuzeit vom Verstand und den quantifizierten physikalischen Modellen errichtet worden sind. Das Ich, das Selbst, die Seele und das Bewusstsein sind in diesen Modellen der Welt nicht zu finden. Sie werden erst wieder angeflanscht durch die Philosophie oder die Psychologie, die das Leben mit den Naturwissenschaften vereinen wollen. Ohne Seele gibt es kein Leben und ohne Leben gibt es keine Natur. Die Welt ist konstruiert und erst recht die erdachten Bilder der Welt.

[12]Die ceteris paribus Klausel wurde im 13. Jahrhundert zuerst von Thomas von Aquin in die Wissenschaft eingeführt, um aus Experimenten Kausalschlüsse ziehen zu können. Die Vereinfachungen entfernen den Modellaufbau von der beobachteten Wirklichkeit.
[13]Der Begriff ‚Paradies’ hat einen Bezug auf die biblische Erzählung. Das erleichtert einerseits die Vorstellung von einem naturbestimmten Leben in Glück und Zufriedenheit, andererseits lenkt es die Gedanken zu sehr in ein auf den Menschen bezogenes (anthropozentrisches) Idealbild, das mit dem Garten Eden einen bestimmten Raum beschreibt. Dabei meint der Begriff hier nicht die Örtlichkeit, sondern den Zustand des Lebens. Im weiteren Verlauf werden wir deshalb ein neues Wort für den Zustand finden.
[14] s. zu einer Zusammenfassung der Fragen beispielhaft: Rorty, Richard, in Clark, Poortega, The Story of Ethics, S. 142 ff. und Nagel, Thomas: What does it all mean?, Introduction
[15]Richard Rorty in dem Essay zum „Physikalismus ohne Reduktionismus“ in: Eine Kultur ohne Zentrum, Stuttgart 1992, S. 58f