Schamanismus
Eine schamanische Sicht
> Blick auf Jetzt
> Vitazentrierte Sicht
> Ordnung in Grenzen
> Kultur in Ordnung
> Spirituelle Wahrnehmungen
> Götter oder Gefühle
Die Basis des Schamanischen ist die Quelle der Gefühle und deren Unendlichkeit. Das Schamanische betrachtet das Leben in seiner ganzen Vielfalt und mit seinen Möglichkeiten. Die schamanische Sicht ist der Natur zugewandt. Sie sieht die Relationen der Wesen zu der Natur, des Geistes zu den Körpern als untrennbare Einheit. Das Schamanische kennt keine Zeit und keinen Raum. Schamanische Arbeit bringt das Leben mit seiner Kreativität in die Welt und fügt ihr neue Potenziale hinzu.
Die schamanische Sicht ist die ursprüngliche Wahrnehmung der Natur, noch bevor die Trennung in Disziplinen wie Philosophie, Biologie, Physik, Anthropologie oder Geologie und andere Wissensgebiete der Gesellschaft herausgebildet worden sind.[1] Sie ist der Gegenpol zu einer anthropozentrischen Weltsicht. Sie ist der natürliche Boden, den manche Gesellschaften verlassen haben, als sie dem Verstand eine selbstständige Bedeutung und einen eigenständigen Sinn zugesprochen haben. Wenn dem Verstand erlaubt wird, das Ego unabhängig von den Gefühlen zu steuern, entfernt der Mensch und seine Gesellschaft sich von den Grundlagen des Lebens, die für alle Wesen und die gesamte Natur gelten.
Die schamanische Sicht ist nicht rückwärts gerichtet auf ein vorzeitliches Stadium, in dem die Schamanen mit Masken um das Feuer tanzten. Sie blickt nicht mit verklärten Augen auf die Geister der Natur, die das Leben beeinflussten, bevor es eine verstandesgetriebene Kultur gab.[2] Sie strebt nicht in die Höhlen zurück und sehnt sich nach den Ritualen und Festen, die das primitive Leben begleiten. Die schamanische Sicht ist nach vorne ausgerichtet auf einen kreativen Weg in die Zukunft, der in der Gegenwart noch beschritten werden kann. Wir tragen die Lebenskräfte unserer Ahnen in uns.
Auf den Schwingen der Ahnen.
In der rückwärtigen Sicht können wir die Erinnerungen betrachten und die Erfahrungen, die zu den Strukturen geworden sind, die wir mit uns tragen. Diese Vergangenheit ist nicht zu ändern. Die Erinnerungen sind änderbar oder sie werden vergessen. Die schamanische Arbeit kann mit Hilfe der Spirits in die Strukturen eingreifen und ihre Wirkung auf die gegenwärtigen Möglichkeiten beeinflussen. Sie kann der Kreativität den Raum öffnen und die möglichen Einschränkungen aus den Erinnerungen oder Ängsten fernhalten.
Aufmerksamkeit auf dem Boden der Gefühle mit einem reduzierten Ego, das seinen Aktionsraum innerhalb der Gefühle findet und auslebt - das ist schamanische Arbeit.
Blick auf Jetzt
Wir leben alle auf der Erde, gemeinsam mit anderen Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturkreisen, gemeinsam mit Tieren und Pflanzen. Wir schöpfen alle unsere Möglichkeiten für das Leben aus derselben Natur. Wir leben alle auf dieser Erde und über die Erde als gemeinsame Basis sind wir alle verbunden. Wir leben unser Leben und dieses Leben hat ein gemeinsames Prinzip.[3] Man kann das Leben fühlen, die Verbindungen spüren, die Möglichkeiten erkennen. Die schamanische Sicht ist auf das Leben gerichtet.
Der Schatten des Gestrigen liegt über einem Jetzt, einer physikalischen Welt, fernab von den Grundlagen und Prinzipien des Lebens. Wir haben eine Abkehr von den natürlichen Grundlagen des Lebens zu einer komplexen Gesellschaft mit einer eigenen Welt erlebt, die lediglich materielle Grundlagen hat. Ihr Bild der Welt wird von der Physik gemalt. Sie hat sich von der Natur und dem Leben losgelöst. Die schamanische Arbeit hält durch alle Epochen und Weltbilder die Verbindungen zu der Natur, zu den Gefühlen und zu der Einheit aller Menschen, Wesen und Pflanzen mit der Erde.
Die Erde ist unsere Mutter.
Das Prinzip des Lebens ist weiterhin die Basis für den Menschen und alle anderen Wesen, Pflanzen und Bewohner der Erde. Ob sie sich gedanklich oder vernunftgetrieben von dieser Basis lösen, ist für den Fortbestand des Lebens unerheblich. Das Leben ist das infinite Spiel, in dessen Rahmen die Welten ablaufen und erkannt werden.[4]
Jedes Wesen hat seine eigene Welt, die es mit seinen Sinnen und Gefühlen wahrnimmt. Diese individuelle Welt ist von Erfahrungen geprägt, von Rahmenbedingungen eingegrenzt, bewertet innerhalb kultureller Setzungen, sie ist mit persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen durchzogen. Die persönliche Sicht ist auf diese eigene Welt gerichtet, die einen Teil des Lebens erfasst.
Die Kommunikation miteinander über die jeweils eigene Wahrnehmung und der Vergleich der eigenen Wirklichkeit mit der Welt der anderen Wesen ist ein schwieriges Unterfangen. Die unterschiedlichen Kulturen der Menschen sind durch ihre verschiedenen Weltbilder geradezu gekennzeichnet
Für die westliche, materialistisch geprägte Kultur reicht die Eingrenzung der Welt innerhalb des Lebens weit in die Renaissance zurück. Hier wurde eine Trennlinie gezogen, die einen Teil des Lebens mit der Kennzeichnung ‚weltlich‘ versah, der als Gegensatz zu ‚geistlich’, ‚sakral’ oder ‚übersinnlich’ verstanden wurde.
Für die technische Kultur und Naturwissenschaft ist die Eingrenzung Friedmanns brauchbar. Er nimmt den Begriff der Welt für das Untersuchungsgebiet der Mathematik und Physik zur Erklärung und Anwendung der Relativitätstheorie, die in einer geometrischen Welt Geltung hat. [5] Das ist die ‚Heimatwelt’ der modernen Wissenschaften, die darin nach Naturgesetzen und Regelmäßigkeiten suchen.
Außerhalb dieser eingegrenzten Welt ist das Leben, das aber den Naturwissenschaften unzugänglich ist. Mit selektierender Deutungsmacht beschränken sie sich auf die materielle, berechenbare Welt. Der Raum mit seinen drei oder mehr Dimensionen ist eine freie erfundene Setzung, ebenso wie die messbare Zeit. Wir brauchen diese Rechengrößen für die Beschreibung einer physikalischen Welt. Wir brauchen die physikalische Welt aber nicht für das Leben. Das ist evident, denn alle anderen Wesen haben kein physikalisches Weltbild. Die Erde und alle Wesen auf der Erde haben ohne eine quantifizierte Welt seit Milliarden Jahren gelebt und vermutlich dieses Leben auch genossen.
Die quantifizierte Zeit macht die Bedeutungslosigkeit der physikalischen Welt erst messbar. Die Dauer dieser Fiktion einer Welt ist in Relation zum Leben auf Erden so kurz, dass sie wirklich nicht der Rede wert ist.
Die Mehrzahl der heute lebenden Menschen ist in dieser Struktur aufgewachsen und wurde mit dem physikalischen Weltbild erzogen und gebildet. Das verstellt meist die Blickrichtung aus der begrenzten, physikalischen Welt auf das unbegrenzte, chaotische Leben. Unberechenbaren, unverständlichen Randbedingungen will man sich nicht aussetzen, das ist unsicher. „Better safe than sorry“, sagt ein englisches Sprichwort und gibt damit eine Warnung an die abtrünnigen Chaoten.
Außerhalb der Strukturen ist es gefährlich – du wirst es bereuen! Im Sprachgebrauch hat der Begriff ‚unberechenbar‘ eine negative Konnotation, ebenso wie das Chaos. Dabei ist die Natur und das darin eingebettete Leben unberechenbar und chaotisch.
Das war es seit den ersten Einzellern und das ist es geblieben bis zu den heutigen denkenden und planenden Menschen. Alle finden sich in den Randbedingungen zurecht, die in der technischen Kultur als chaotisch und unverständlich eingestuft werden.
Natur ist Chaos.
Schaut ein physikalisch, technisch denkender Mensch aus der begrenzten Welt auf das unbegrenzte Leben, so erscheint das unfassbar, vielleicht auch unheimlich oder bedrohlich. Es ist von dieser Warte aus schwer, ein Vertrauen in Entwicklungen aufzubauen, die sich nicht voraussehen lassen, in Kräfte, die sich nicht messen lassen und in Möglichkeiten, die sich nicht beziffern lassen. Diese Unsicherheit verlangt nach Halt und Orientierung in Strukturen, die Erklärungen und Antworten bereithalten. Die Antworten mögen plausibel sein und Ursachen beschreiben, die beobachtete Auswirkungen verständlich machen. Für viele Beobachtungen gibt es allerdings keine physikalischen, materiellen Erklärungen. Sie sind akausal wie die Schwerkraft, die Erscheinungen der Quanten oder die übersinnlichen Kräfte. Dann werden die Beobachtungen in vielen Fällen als unrealistisch abgetan.
Aus einer schamanischen Sicht haben viele Beobachtungen andere Erklärungen. Der Schamane betrachtet die Welt aus einem anderen Blick und erkennt Zusammenhänge einer anderen Qualität. Synchronizitäten sind nicht akausal, sondern haben eine gemeinsame Wirkung aus der spirituellen Ebene. Sie sind unberechenbar und enthalten oft eine mehrwertige Logik, aber sie sind flankiert von einem Vertrauen in die Natur und von der Geborgenheit in ihrer Obhut und Liebe. Die Liebe der Natur, die Seele und die menschliche Anbindung spenden ein Reservoir von Möglichkeiten, die aus dem Chaos in das Leben wirken. Die Frage nach der Ursache ist falsch gestellt, denn die Antwort kann der Mensch in seine Welt nicht aufnehmen. Das Frageprinzip ist allen anderen Wesen unzugänglich und trotzdem leben sie. Das Leben oder die Natur brauchen nicht den Menschen, jedenfalls hat der Mensch in dem natürlichen Gefüge keine priorisierte Stellung, womit zuvorderst die Verpflichtung oder die selbst definierte Mission erlischt, die Natur und ihre Kräfte zu kontrollieren.
Dem Menschen wird keine bevorzugte anthropozentrische Position zugesprochen, er ist ein Wesen unter vielen anderen auf der Erde. Der Schamane vertraut in seinem Leben demütig der Mutter Erde und wird in ihrem Schoß behütet.
Dem Schamanen sind jede Position und somit jede Sicht möglich. Das bedarf einer hohen Aufmerksamkeit und einer Reduktion des Ego auf ein Minimum. Das Abtauchen in die Gefühlsebene des Lebens ermöglicht die Verbindung zu anderen Menschen ohne jede formale Kommunikation und zu anderen Wesen, Pflanzen oder Kräften der Natur. Er lebt in dem gemeinsamen Feld der Seele.
Die schamanische Sicht[6] auf das Leben enthält auch die materielle Welt, die in geometrischen oder noch eingeschränkter in euklidischen Räumen spielt. Darüber hinaus ist das Leben des Menschen wesentlich von nicht-materiellen Erfahrungen geprägt, von Gefühlen, Erwartungen, Glauben und zwischenmenschlichen Beziehungen. Noch umfangreicher sind die Lebenswelten, wenn wir den Menschen aus dem Zentrum nehmen und alle möglichen Leben auf der Erde nachempfinden.
Das Leben einer Taube ist in andere Rahmenbedingungen eingebettet. als das Leben einer Qualle. Das Leben der Ameise ist auf das Gemeinwohl des Volkes gerichtet. Das Leben des Eisbären hat völlig andere Züge und Abläufe, als das Leben eines Haushundes, der an seiner Familie mit einer emotionalen Bindung haftet. Ein Baum wächst in seinen Möglichkeiten in ähnlicher Wiese, wie ein Kind in seiner Umwelt groß wird, die ihn für sein Leben prägt.
Eine Spinne vertraut einem dünnen Fädchen und die Fledermaus ist für ihre Orientierung auf die Aussendung eigener Signale angewiesen. Jedes Leben folgt einem gemeinsamen Prinzip des Werdens und Vergehens für das neue Leben und jedes Leben hat seine Seele und seine Gefühle, die ihm die Möglichkeiten offenbaren, die es nutzen kann.
Das Gefühl der Seele ist die Liebe.
Vitazentrierte Sicht
Auf die Basis des Lebens gründet sich die schamanische Sicht, die wir deshalb als ‚vitazentriert‘ bezeichnen werden. Diesen Begriff habe ich in Abgrenzung zu der anthropozentrischen Betrachtung gewählt, die ein Weltbild charakterisiert. Mit einer vitazentrierten Sicht rückt man kein Lebewesen und keine Pflanze in die Mitte des Lebens auf der Erde. Jede Lebensform passt sich an seine Randbedingungen an. Für seine Randbedingungen ist es perfekt entwickelt. Der Oktopus ist in seinen Randbedingungen optimiert und zwar nicht besser und nicht schlechter als die Fliege. Der Adler lebt in seinem Umfeld und die Meise ebenso.
Ohne die Bevorzugung einer Lebensform schwindet die Möglichkeit einer teleologischen Entwicklung der Wesen. Ohne die Bevorzugung einer Blickrichtung auf das Leben ist die Sicht aus jedweder Welt eines Wesens gleich relevant und lebenswichtig. In der anthropozentrischen Weltanschauung wird darauf verwiesen, dass Menschen eine Vormachtstellung haben, weil sie Fähigkeiten wie Intelligenz, Selbstreflexion oder Bewusstsein entwickelt haben. Es ist leicht einzusehen, dass diese Fähigkeiten nur vom Menschen in den Vordergrund gerückt werden, weil er sich damit von den anderen Wesen differenzieren kann. Bewertet der Mensch diese Fähigkeiten positiv, dann ist der Anthropozentrismus das Ergebnis. In einer schamanischen Sicht sind die speziellen Eigenschaften der Spezies ohne Bewertung. Für das Leben ist die Ausstattung der Wesen insofern von Bedeutung, als sie dem unendlichen Spiel des Lebens nicht im Weg stehen. Es ist für die finiten Spiele innerhalb des Lebens ausreichend, wenn die Wesen sich an die Randbedingungen anpassen.
Nutze Deine Möglichkeiten.
Warum sollte das Auftreten von Bewusstsein im Leben erwartbar oder gar wünschenswert sein? Ist die Orientierung der Fledertiere oder Delphine an ihren eigenen Lauten nicht ebenso erstaunlich? Das Bewusstsein hat für das Fortbestehen des Lebens weniger Vorteile, als die Regenerationsfähigkeit der Flora auf Erden. Aus einer vitazentrierten Sicht ist die Artenvielfalt wichtiger als das Bewusstsein oder der Verstand. In der schamanischen Arbeit öffnet man sein Bewusstsein für eine Betrachtung des Lebens aus der Sicht anderer Menschen, anderer Wesen und spiritueller Begleiter. Selbst ein Blick auf das Leben aus der Position der Erde ist eine mögliche Perspektive, die Einsichten in das Leben aus der Distanz ermöglicht.
Mit der Änderung der Perspektive geht auch die Kausalität verloren als die Grundlage der technisch-physikalischen Welt. Wenn es keine klaren, abgegrenzten Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen gibt, verlieren sich die Möglichkeiten der Erklärungen und der logischen Argumente. Vorhersagen innerhalb statischer Rahmenbedingungen sind nur noch in Teilbereichen möglich, die wie Inseln der Stabilität im Chaos erscheinen. Und doch ist dieses Chaos die Natur.
Die Schamanische Sicht richtet sich auf das Chaos und erkennt die Anpassungsfähigkeit der Natur und ihrer Wesen an. In den Armen der Mutter Erde findet sich die Geborgenheit und das Vertrauen auf unvorhersehbare Entwicklungen zu reagieren. Jedes Wesen hat die Möglichkeiten, in den wechselnden Rahmenbedingungen den Weg zur eigenen Zufriedenheit zu beschreiten.
Vertraue der Natur.
Die materialistische Kultur errichtet auf den Inseln der Stabilität berechenbare Systeme mit Strukturen, die der Natur abgerungen werden. Wenn diese Systeme formalisiert sind, berechenbar und stabil, dann lässt sich ihre Entwicklung mit einer gewissen Sicherheit vorhersagen. Diese Systeme sind aber fern von der Natur und dem Leben. Die Weltinseln im Leben müssen mit Macht verteidigt werden, ansonsten werden sie ganz natürlich abgebaut und in das kreative Chaos zurückintegriert.
Ordnung in Grenzen
Das Leben basiert auf natürlichen Prozessen und erschafft die Natur in der es gedeiht. Vielleicht folgt es einer Logik und einem Lebensprinzip. Die Kausalitäten für das Leben liegen außerhalb der physikalischen Welt. Sie liegen sogar außerhalb der Natur. Über spirituelle Zugänge lassen sich die Lebenskräfte ahnen oder erfühlen. Aus einem vitazentrierten Blickwinkel geben wir die Annahme auf, die Triebkraft der Evolution sei ausschließlich in physischen Ursachen zu finden.[7]
Die Logik und Vorhersagbarkeit der physikalischen Welt werden in der schamanischen Arbeit um das Vertrauen in die natürlichen Entwicklungen ergänzt. Das Vertrauen ist eine Grundlage des Lebens mit der Natur und ist mit Synergie zu gewinnen. Es ist das Vertrauen in die Möglichkeiten, die aus dem Chaos kommen und genau dann kommen, wenn sie gebraucht werden.[8] Dann realisieren sie sich in eine Ordnung.
Der Mensch erlangt seine Zufriedenheit aus einer Balance der strukturierten, stabilen Bereiche seiner geordneten Welt und dem Zufluss kreativer Möglichkeiten aus dem Leben.
Das Erkennen von Ordnung ist jedem Wesen gegeben. Jedes Wesen hat seine Umgebungen, in denen es gewisse Strukturen erkennt - aus dem Chaos. Darin sieht es seine Möglichkeiten und kann sie ergreifen. Über die natürliche Ordnung habe ich an anderer Stelle ausführlich geschrieben, deshalb hier nur die Betrachtung der Ordnungsniveaus, die in der Addition wieder zur natürlichen Ordnung oder zum Chaos führen.
Es gibt sicher Überschneidungen von Ordnungen. Ein Knall wird von vielen Wesen wahrgenommen und erhält einen Platz in deren jeweiliger Welt der Erlebnisse. Das Kaninchen verbindet damit andere Erinnerungen, als der Falke oder der Mensch. Jedes Wesen mit vergleichbaren Sinnesorganen nimmt den Schalldruck als Knall wahr. Der Raubvogel hört den Knall möglicherweise wie der Mensch, der Hund oder das Reh. Die Spinne oder die Wespe setzen den Schalldruck vermutlich in etwas Anderes um.
Bei visuellen Reizen geht die Variation der Wahrnehmungen weiter auseinander. Der Mensch sieht unter Wasser verschwommen, die Robbe so deutlich wie über Wasser. Die Biene sieht ultraviolettes Licht und der Maulwurf fast gar nichts. Der Falke sieht alle Bewegungen in Zeitlupe und den Flug einer Gewehrkugel, hingegen kommt für die Schnecke alles total überraschend.
Die anderen Sinneswahrnehmungen seien nur erwähnt, wie die verschiedenen Geruchsreize, die Ultraschallwellen, die elektrischen Felder und extreme Tastsinn-Fähigkeiten. Nehmen wir alle Möglichkeiten zusammen als das größte Vielfache, dann können wir uns kaum vorstellen, welche ungeheure Bandbreite an Wahrnehmungsmöglichkeiten die Natur anbietet und wie sie in allen Wesen tatsächlich realisiert sind. Die Beschreibung dieser Welten ist für uns so unüberschaubar wie das Chaos, der Zustand maximaler Entropie.[9] Jede Wahrnehmung eines Wesens oder einer Pflanze ist die Grundlage einer Welt, die Basis einer arttypischen Wirklichkeit. Die Summe von allem ist das Leben mit seinen Möglichkeiten, ist das Chaos oder die Quelle purer Kreativität.
Mit dem schamanischen Anschluss an das Leben und den spirituellen Fähigkeiten haben wir eine Verbindung zu der grenzenlosen Kreativität. Der Anschluss lässt sich nicht mit unserem begrenzten Verstand vollziehen, sondern mit den Gefühlen und Empfindungen. In der schamanischen Arbeit holen wir neue Möglichkeiten, Potenziale, e’a aus dem Soolago. Der Verstand soll zur Ruhe kommen und den Weg freimachen für die Gefühle, damit der Durchfluss ohne Barrieren ermöglicht wird. Dabei helfen bewährte Übungen oder Techniken mit Rasseln, Trommeln, Tänzen oder weiteren Hilfsmitteln. Aber es gibt keinen eindeutigen Fahrplan oder eine Reisebeschreibung zum Weg des Schamanen.
Das Vertrauen in Entwicklungen, die unserem Verstand und den Kausalitäten nicht zugänglich sind, ist kein Rückfall in die Steinzeit und kein Verlust der intellektuell strukturierten Welt. Es ist eine Rückbesinnung auf die Qualitäten und Fähigkeiten, mit denen wir in das Leben gekommen sind. Die mystischen Erklärungen für menschliche Beobachtungen gab es seit die Natur Lebewesen mit einem Verstand hervorgebracht hat.
In der griechischen Philosophie setzte ein Trend ein, der einen Teil dieses Lebens als intelligible Welt herausgelöst hat, die eine Ordnung hat und diese Ordnung lässt sich mit menschlichem Denken verstehen.[10] Im weiteren Verlauf entwickelte sich daraus eine physikalisch-technische Kultur, die eine Blase mit eigenen Regeln geschaffen hat, die innerhalb des Systems lebenswichtig sind. Die Umwelt wurde nach und nach künstlich eingegrenzt und von der Natur immer weiter entfernt. Dabei wird die Umwelt soziologisch und räumlich zunehmend verengt.
Ordnung wird bestimmt, nicht gefunden.
Heute leben mehr als die Hälfte der Menschen in Städten, in einer künstlichen Umgebung, die eine austarierte Infrastruktur erfordert. Dieses System setzt die Rahmenbedingungen für das menschliche Leben statt der Natur. Bricht dieses fragile Konstrukt aus Energieversorgung, Mobilität, Nahrungsmittelverfügbarkeit und Kommunikation zusammen, ist zu befürchten, dass ohne Elektrizität viele Menschen in Städten sterben, ebenso wie ohne Lebensmittelversorgung oder ohne Polizei.
Kultur in Ordnung
Die technische Kultur auf der Grundlage der physikalischen Wissenschaft hat offensichtlich Ermüdungserscheinungen. Die Wissenschaft hat ein künstliches, naturalistisches Weltbild immer mehr verfeinert und atomisiert. Es ist ein Konglomerat spezialisierter Teilsysteme, zu dem der Überbau fehlt. Die Konstrukteure des materialistischen Weltbildes sind zwar zuversichtlich, eine Erklärung für alles zu finden, aber die Superformel bleibt weiterhin verborgen.[11] Die sogenannte GUT (great unified theory) ist nicht gefunden, obwohl Generationen von Wissenschaftlern sich mit dem gesamten Potenzial der vorläufig bestätigten Theorien und der Computerpower der Welt auf die Suche gemacht haben. Die in der technischen Kultur abgelegten Bruchstücke des Wissens sind so komplex, dass das Gesamtbild den allermeisten Menschen unverständlich bleibt.
Und so tun sich immer größere Lücken zwischen dem Leben und seinen physikalischen Abbildern auf. „Es gibt Dinge, die zu verstehen uns die Wissenschaft, so wie sie derzeit konzipiert ist, nicht hilft und bei denen wir aufgrund der internen Charakteristika der physikalischen Wissenschaft absehen können, das sie sie auch nicht erklären wird.“[12] Nagel sucht wie andere zeitgenössische Philosophen und sogar einige Naturwissenschaftler nach einer säkularen Basis, die den Geist ‚mit der physikalischen Gesetzmäßigkeit als ein fundamentales Prinzip der Natur anerkennt’[13].
Bei aufmerksamer Beobachtung erleben wir den geistigen oder spirituellen Teil des Lebens, dem wir uns außerhalb der naturwissenschaftlichen Zivilisation hingeben können. Die Natur ist nicht ersetzt worden, nur eingegrenzt. In der Natur brauchen wir funktionierende technische Systeme nicht.[14] Wir brauchen eine andere Aufmerksamkeit, um Vertrauen in das Leben zu fassen. Dabei stehen die mystischen Erklärungen den Menschen bei, sie geben Orientierung, sie lassen einen klaren Blick auf die Natur zu. „We transfer these ideas to the race generally, and are thus led to think of the men who made and repeated myths as simple, innocent creatures who were somehow nearer than we are to the beginning of things, and so, perhaps, saw with a clearer vision. A truer view of what a child’s thoughts really are will help to put us on the right track. … Their games are based upon an animistic theory of things, and they are great believers in luck and in the lot.“[15]
Das Kind braucht die Erklärungen und Eingrenzungen der technischen Welt nicht, um seine Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. In seiner Umgebung braucht der Säugling nur den Zugriff auf die Mutterbrust und einen warmen Platz zum Schlafen, er muss nicht wissen wie ein Mobilphone bedient wird. Das Kind braucht einige Spielkameraden, soziale Kontakte, Essen, Trinken, Schlafen, aber es braucht keinen Führerschein. Das Lebensprinzip gilt in einfacher Form für jedes Wesen in der Natur. Wenn das Lebensprinzip ‚Hier sind Deine Möglichkeiten - nutze sie‘ anwendbar ist, dann hat das Wesen alles und ist perfekt ausgestattet.
Die Fiktion das Kind sei eine ‚tabula rasa‘, die beschrieben werden müsse, ist aus schamanischer Sicht nicht haltbar.[16] Vielmehr hat das Kind alle Möglichkeiten für ein Leben mitgebracht, vor allen Dingen die Liebe. Von dieser Ausgangsposition kann die Kommunikation auf eine bestimmte Sprache eingegrenzt werden, die Fortbewegung kann auf das Gehen auf zwei Beinen trainiert werden, die Angst kann als Gefühl konditioniert werden, das Schreiben erfordert ein Training der Handmuskulatur, die auch für viele anderen Tätigkeiten genutzt wird, die Erinnerungsmöglichkeiten können auf Zahlen geschult werden.[17]
Alle diese Möglichkeiten bringt das Kind schon in das Leben mit und eine Unmenge weiterer Gefühle, Naturanbindungen, Vertrauen, Seelenfrieden, Empathie, Altruismus, Abenteuerlust, Neugier, Risikobereitschaft und Mut. In einer Rückbesinnung auf unsere natürlichen Fähigkeiten, in schamanischer Arbeit und spiritueller Lebenseinstellung streben wir diesen paradiesischen Ursprungszustand wieder an. Die schamanische Sicht auf das Leben findet sich jenseits aller theistischen Erklärungsmuster der Menschen, unterhalb der naturalistischen oder gar physikalisch eingegrenzten Weltbilder, jenseits einer anthropozentrischen Wirklichkeit. Der schamanische Blick richtet sich nicht auf die materiellen, abgegrenzten Entitäten der Naturwissenschaft, sondern auf die Verbindungen dazwischen. Was hält die Materie zusammen? Warum gibt es Formen, Fortpflanzung, Ideen und Aktionen?
Die Gefühle halten alles zusammen.
Sie sind der Repräsentant der Seele im Menschen. Wie der Mensch hat jedes andere Wesen Gefühle, die aus der Seele Reaktionen in das Individuum werfen. Diese Gefühle teilen wir mit der großen Seele und mit allen anderen, die ebenso die Seele teilen. Vornehmlich die Liebe übt die Anziehungskraft aus, die Hoffnung treibt uns in die Zukunft, das Vertrauen stärkt uns den Rücken, die Intention bewegt die Materie.
Spirituelle Wahrnehmungen
Auf dem Leben bauen die Wirklichkeiten auf, von denen wir unsere eigene ganz gut kennen. Von den Wirklichkeiten der anderen Menschen haben wir gewisse Vorstellungen und Ahnungen, die wir aus den sinnlichen Kommunikationen gewinnen können. Die Grenze zu den Wahrnehmungen über die Gefühle ist fließend und je nach dem Grad der Aufmerksamkeit und der Verbindung zwischen Menschen und Tieren erschließt sich die Wirklichkeit des Anderen in unterschiedlicher Intensität.[18]
Sheldrake bezeichnet den Charakter dieser Wirklichkeit als ‚interaktionistisch‘. Das ist der Gegenentwurf zu den mittelalterlichen egozentrischen Entwürfen, die nur den eigenen Wahrnehmungen eine Wirklichkeit zugestanden. In dem Sensualismus des Mittelalters gibt es nur die individuellen Wirklichkeiten, die anderen Wesen unbekannt sind. Von dem Erleben der naturnahen Kulturen, von der schamanischen Sicht zu dem Sensualismus war es ein weiter Weg. Er hat von der Natur weggeführt und für die Entfremdung von der Mutter Erde das Fundament gelegt. Der Mensch wurde in der rationalen, materialistischen Kultur zum Machthaber über die Erde.
In den naturnahen Mythen verwischen sich die Grenzen zwischen den Tieren und den Menschen. Die Menschen verwandeln sich in Tiere und umgekehrt. Die Götter können Tiere sein oder eine Symbiose zwischen Mensch und Tier. Den Hindus ist die ganze Welt heilig, die Luft ist der Atem Vishnus, Sonne und Mond sind seine Augen, die Berge sind seine Knochen.
Die Aborigines in Australien haben die Schöpferwesen, die umhergingen und auf ihrem Weg die Landschaft mit charakteristischen Merkmalen wie Löchern, Bergen und Felsen schufen. Sie erschufen auch Menschen, Tiere und Pflanzen auf ihren Wanderungen. So sind die Lebewesen und die Flora in dem Erschaffungsmythos untrennbar verbunden. Die Lakota stiegen aus der Erde hervor und ihre Göttin ist eine weiße Büffelfrau, die ihnen die Rituale geschenkt hat. Die Micmac in Kanada kennen sechs Welten in denen der gesamte Kosmos belebt ist. Felsen sind Personen, ebenso wie Winde, Blitz und Donner und alle Kräfte der Natur. Die Stämme der Urvölker sahen alles als beseelt an und erkannten hinter jeder Naturerscheinung eine Gottheit.
In der schamanischen Sicht wird die beseelte Natur mit ihrem Spirit (Geist) erfasst, der einen Kontakt ermöglicht. Er kann befragt werden und um Hilfe angerufen werden. Er hat kein menschenähnliches Wesen und verwendet keine Sprache zur Kommunikation. Der Kontakt bleibt auf der Basisebene der Gefühle und der unerklärlichen Wahrnehmungen. Mit dem Zugang zu diesen Spirits öffnet sich das Leben in seiner Verbindung zu allen Wesen, Pflanzen und der gesamten Natur. Dieses Privileg schafft die Sicherheit und das Vertrauen in das Leben und der Mensch ist behütet. Das Vertrauen bringt der Mensch mit in dieses Leben, es ist angeboren.
Die Gefühle lügen nicht.
Werden Gefühle kommuniziert und über zwischengeschaltete Medien, Vermittler oder Götter übertragen, kann man sich über den Wahrheitsgehalt und die Authentizität nicht so sicher sein.
Wenn wir von dem anthropozentrischen Bild der Welt absehen und die Menschen wie andere Wesen in eine ganzheitliche Sicht der Natur einbetten, dann wird es schwierig, eine Ebene der Götter oder Vermittler zwischen den Wesen und der Natur anzuerkennen. Für Götter fehlt der Platz oder schlicht die Notwendigkeit. Ein Leben ohne Götter ist für alle Kreaturen inklusive der Menschen, für die Pflanzen und die gesamte Natur möglich. Naturvölker setzen die Spirits ungefähr mit den Göttern gleich. Der Gott oder Spirit des Waldes kann um Hilfe gebeten werden. Ein spiritueller Helfer begleitet den schamanisch Reisenden zu den Plätzen oder Spirits, die ihre Stärke mit ihm teilen. Das Vertrauen in die Kräfte der Natur lässt ihn annehmen, was er braucht. Er findet die Möglichkeiten, die ihm jetzt die Potenziale öffnen, die er nutzen kann. Eine Religion oder Kirche ist für den Fortgang des Lebens nicht erforderlich.
Das Vertrauen hält das Leben in Gang und ersetzt die verstandesgetriebene Frage nach dem Sinn. Noch vor den philosophischen Sinnfragen steht die Natur für alle Wesen, die keine Fragen stellen. Die Antworten sind für den Fortbestand des Lebens und für das Glück der Menschen nicht sonderlich hilfreich, denn sie können nur von Menschen kommen. Menschen sind die einzigen Wesen auf der Erde, die das Prinzip von Fragen und Antworten erfunden haben und beherrschen
In der spirituellen, schamanischen Arbeit stellen wir auch Fragen, wie es die Menschen eben tun. Die Antworten kommen aber aus der Natur oder von den Spirits und aus dieser Quelle antwortet das Leben. Das Leben beginnt bei Dir, also sind Antworten auf Lebensfragen von der Kultur, von anderen Menschen, von einer Institution mit eigenem Weltbild, von einer Autorität oder von der Fiktion eines Gottes wenig hilfreich.
Ein Gott in der naturfernen, rationalen Kultur ist die Erfindung eines anthropozentrischen Wunschdenkens.[19] Er soll speziell für die Menschen der naturwissenschaftlichen Welt zuständig sein und in den Bildern der Kirchen wird er sogar in menschlicher Gestalt dargestellt. Damit wird ein weites Feld des Wirkungskreises ausgesperrt. Die schamanische Sicht auf das Leben beruft sich auf die Natur, die für alle Tiere und Pflanzen die Basis und der Lebensraum ist. Leben und Natur ist vom Menschen nicht gestaltbar oder manipulierbar.
Seine Fähigkeiten reichen nicht aus, das kreative Chaos zu simulieren und die Wirkungen seiner unterstellten Zusammenhänge auf die natürliche Entwicklung zu antizipieren. Seine Welt ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben.[20] Deshalb verspricht Vertrauen in die Natur eine bessere und lebenswertere Zukunft als Machtanwendung gegen die Natur.
Die Spirits teilen ihre Stärke, ohne sie abzugeben. Die schamanische Sicht richtet sich auf die Synergie, in der die Freiheitsgrade der Anderen oder der Gemeinschaft erweitert werden. Die schamanische Arbeit weist den Weg in eine lebenswerte Zukunft und setzt die Rahmenbedingungen in denen sich das individuelle Leben entfalten kann. Sie teilt die Stärke und öffnet neue Freiräume. Stärke soll verschwendet werden, damit sie sich vermehrt. Das ist das natürliche Prinzip des Lebens.
Verschwendete Stärke vermehrt sich.
Die Bitte um Hilfe an die Spirits ist für jeden offen, diese Möglichkeit schließt keinen aus, keinen Menschen, kein Tier und keine Pflanze.[21] Die helfende, wohltuende Stärke aus der Natur kann beliebig geteilt und weitergeleitet werden. Aus dieser schamanischen Perspektive erhalten alle Teilnehmer in diesem Netzwerk mehr und die Kraft wird als unendlich wahrgenommen, weil sie sich mit der Teilung vermehrt.
Die Spirits sind die Natur. Der Spirit des Baumes hat kein anderes Bild als der Baum. Der Spirit des Waldes hat kein Gesicht oder einen krüppeligen, baumischen Körper - es ist der Wald. Der Spirit des Meeres hat keinen Körper wie Neptun. Dem Meer einen menschenartigen Körper zu geben ist einerseits ein typisch anthropozentrisches Bild. Jemand beherrscht das Meer und der sieht so ähnlich aus wie ein Mensch.
Macht
Macht ist ein kulturell fundiertes Prinzip, das die Freiräume eingrenzt. Macht ist endlich. Sie wird geringer, wenn sie geteilt wird, so wie jede Materie weniger wird mit der Teilung. Macht muss zusammengehalten und verteidigt werden, damit sie sich nicht vermindert. Macht baut Grenzen auf, deren Einhaltung sie überwachen muss. Macht kann sich nur vermehren, wenn sie die Freiheitsgrade der Anderen reduziert.
Das Machtprinzip bildet sich in einer ausschließenden Religion ab, die andere von ihrem Gott und Glauben ausgrenzt oder gar bekämpft. Das wird von Machthabern gut verstanden und hier kann er Allianzen bilden, die auf einem gemeinsamen Verständnis fußen. Die selektierende Deutungsmacht grenzt aus. Das gefällt einem Machthaber, der seine Grenzen verteidigen muss, denn Macht ist nicht ohne Verlust teilbar. Die zugehörige Religion ist aus Sicht der naturnahen Kulturen unverständlich und verlogen.
Die Bitte um Hilfe an die Spirits ist für jeden offen, diese Möglichkeit schließt keinen aus, keinen Menschen, kein Tier und keine Pflanze.[21] Die helfende, wohltuende Stärke aus der Natur kann beliebig geteilt und weitergeleitet werden. Aus dieser schamanischen Perspektive erhalten alle Teilnehmer in diesem Netzwerk mehr und die Kraft wird als unendlich wahrgenommen, weil sie sich mit der Teilung vermehrt.
Die Spirits sind die Natur. Der Spirit des Baumes hat kein anderes Bild als der Baum. Der Spirit des Waldes hat kein Gesicht oder einen krüppeligen, baumischen Körper - es ist der Wald. Der Spirit des Meeres hat keinen Körper wie Neptun. Dem Meer einen menschenartigen Körper zu geben ist einerseits ein typisch anthropozentrisches Bild. Jemand beherrscht das Meer und der sieht so ähnlich aus wie ein Mensch.
Andererseits ist es sehr widersinnig, denn ein menschenähnliches Wesen kann sich nicht gut im Meer aufhalten. Ein Delphin, ein Wal oder eine Krake wären passendere Symbole für den Spirit des Meeres. Sie repräsentieren die unzähligen Arten des Meeres besser als ein Menschenbild.
Götter oder Gefühle
In den naturfernen Religionen sind die Götter tatsächlich separiert von den Wahrnehmungen der Natur und sie werden in Bildern mit menschlichen Begriffen festgehalten. Die Liebe ist ein Gefühl und doch gibt es den Eros, der dem Gefühl Gestalt gibt.
Es gab Götter für die Wahrheit, für den Schlaf und den Traum und für die meisten Gefühle. Also selbst dort, wo nichts Materielles wie die Erde oder die Sonne dargestellt wurde, gab es konstruierte Götter für die Gefühle. Unendliche Gefühle wurden ins Endliche materialisiert und erhielten außerdem noch die Gestalt von Menschen. So wurde das Leben entzaubert.
In der Kultur und Religion der amerikanischen Ureinwohner, die viele Völker und Stämme mit unterschiedlichen Schwerpunkten abdeckt, spielen die Spirits der Natur eine bedeutende Rolle. Sie manifestieren sich in der Natur. Die Grenze zwischen Mensch, Tier und Natur ist fließend. Sterne sind Tiere, die über den Himmel streifen. Winde werden von Riesen oder großen Vögeln erzeugt. Raben, Spinnen oder manchmal auch Bären oder Büffel gelten als heilige Wesen, die mit Weisheit, Mut, Liebe, Schläue oder auch Angst agierten.
Auf meinen schamanischen Reisen in meine emotionale Welt gehe ich mit Liebe und mit der Bitte um Hilfe. Dort wartet oder begleitet mich aber kein Wesen, dass für die Liebe oder den Tod steht. Ich erlebe keine Symbolik, weder von Gegenständen noch von Wesen. Der See ist der See und der Wolf ist der Wolf, mein Lehrer ist eine Figur, die sich teilweise wandelt, je nach dem Rat, den ich erfrage. Er zeigt mir Bilder oder stellt eine Situation in der Zukunft auf. Ich gebe keine Bedeutung in das Geschehen oder in die Beobachtungen. Ich bin aufmerksam. Wenn eine Seele geholt wird, dann ist sie anwesend. Wenn der Lehrer mir rät, etwas gehen zu lassen, dann sehe ich es gehen. Wenn einem Hilfesuchenden der Leib geöffnet wird, dann wird er auf der Reise geöffnet. Sehe ich ein Brett auf einer Person oder eine Stange in ihr, dann entferne ich das Brett oder die Stange. Es ist nicht meine Aufgabe als Medium, darüber zu sinnieren, was die Stange zu bedeuten hat. In meinem Schamanismus gibt es keine personifizierten Götter.
Schamanismus hat keine Götter.
In Japan waren die ursprünglichen Götter ohne Figur. Sie waren unsichtbare Spirits oder rein spirituelle Kräfte in allen Dingen der Natur. Erst mit der Übernahme des Buddhismus kamen Statuen oder Bilder ins Spiel. Das Bilderverbot gibt es in den zehn Geboten des Christentums[22] und in manchen anderen Religionen wie dem Judentum, dem Islam und einigen protestantischen Richtungen. Damit soll bedeutet werden, dass ein Glaube nicht zwingend mit einem Bildnis verbunden sein muss, sondern davon unabhängig reine Spiritualität beinhalten kann. Die schamanische Sicht braucht keinen Glauben im religiösen Sinne. Sie hat auch keinen Gott, der eine Ordnung herstellt, die der Mensch versteht. Es gibt im Schamanismus keinen Gott, der eine Ordnung aufrechterhält, damit die Spezies Mensch den Gang des Lebens versteht. Die Natur ist im Zentrum der schamanischen Betrachtung. Sie kennt und achtet die Kraft der Spirits aus der Natur für die Natur, für jedes Wesen, jede Pflanze und auch für den Menschen.
Die Mythen der Naturvölker und die religiösen Erzählungen naturnaher Kulturen positionierten die Menschen nicht an prominenter Stelle oder mit einer bevorzugten Behandlung durch die Götter. Es gab in den Kulturen Seher, Schamanen oder Medien, die zwischen der Menschenwelt und der Anderswelt vermitteln konnten oder beide Welten bereisen konnten. Das erhob sie aber nicht über die Natur und die Götter. Es verlieh ihnen vielmehr eine Verantwortung für die spirituelle Anbindung ihres Stammes und seiner Mitglieder. Sie mussten ihre Kräfte und Künste für den Stamm einsetzen. Ihre Arbeit war ‚naturzentriert‘. Die Spirits sind stark und sie teilen ihre Stärke. Als Medium hat der praktizierende Schamane einen Anschluss an die Unendlichkeit, weil dort die Quelle aller Möglichkeiten entspringt, die sich mit der Weitergabe vermehrt und nicht erschöpft. Er braucht keinen Gott und kein Weltbild, denn er agiert im Leben. Er ist ‚vitazentriert‘ ohne die Beschränkungen einer menschlichen Welt, oder gar einer quantifizierten und intelligiblen Welt.
Auf der Gefühlsebene ist der schamanische Arbeiter mit dem Leben, den Spirits, den anderen Wesen und der gesamten Natur verbunden. Er steht jedoch nicht im Mittelpunkt und hat kein begrenztes Bild der Welt. Das Leben ist überall, es kann an jedem Ort beobachtet werden. Wie in einem Netzwerk es überall zugänglich und bietet seine Hilfe und Stärke in der Natur an. Eine Positionsbestimmung in menschlichen Dimensionen ist mit einer schamanischen Sicht nicht vereinbar. Die Kräfte der Natur wirken unabhängig von Raum oder Zeit. Die Potenziale des schamanischen Arbeiters liegen in den Möglichkeiten der Natur. Er legt sich selbst und den Empfängern seiner Arbeit keine Begrenzungen auf, die nicht von den Spirits vorgegeben oder angeraten werden. In der vitazentrierten Sicht liefert der Mensch sich der Natur aus und empfängt die Liebe und Stärke, die sie mit ihm teilt. Die Natur ist unerschöpflich und grenzenlos und braucht keinen Vermittler oder Gott mit der Macht, etwas zuzuteilen oder wegzunehmen.
In einer theozentrischen Sicht gibt es einen mächtigen Gott, von dessen Gnade der Mensch abhängig ist und der ihm von sich und mit seiner Macht Möglichkeiten zuteilt oder auch wieder entzieht. Diese Vorstellung passt in das Bild der abendländischen Kultur und zu dem Machtanspruch eines Herrschers, der für sich den Respekt, die Hingabe und die Aufopferung einfordert. An der Koalition zwischen Herrscher und Religion wurde seit tausenden von Jahren gearbeitet: Beides hat sich zusammengefügt und die Untergebenen aus jeder Richtung eingegrenzt.
Im Schamanischen gibt es keinen Gott, der Möglichkeiten zuteilt oder eingrenzt. Das Leben findet nicht innerhalb der von Gott gegebenen Rahmenbedingungen statt. Diese Rahmenbedingungen werden wie oben beschrieben als die Welt oder die Wirklichkeit bezeichnet.[23] Für Machthaber sind sie ein ideales Spielfeld, das nicht nur von dem Gott eingegrenzt wird, sondern außerdem noch mittels seiner Macht weiter verengt werden kann. Deshalb verstehen die Machthaber das Prinzip der Eingrenzung sehr gut und paktieren gern mit den Kirchen. Sie können ihre Untergebenen unter ihren Willen einpferchen, weil die Grundakzeptanz in den frühen Erziehungsstadien bereits angelegt ist. Macht wird nicht zur Macht, indem sie so deklariert wird, sondern indem sie akzeptiert wird. Eine Kirche, die Angst predigt, ist der ideale Partner der Machthaber, denn Angst ist die Peitsche der Macht.
Angst schränkt ein.
In einem naturverbundenen Erleben gibt es keine Sicht, die das Leben in eine Wirklichkeit eingrenzt. Andere Wirklichkeiten der Wesen mit anderen Wahrnehmungen werden ebenso anerkannt wie die menschlichen. In der schamanischen Arbeit kann das Ego so weit in den Hintergrund treten, dass die Welt aus der Position anderer Wesen erlebt wird. Das eigene Weltbild wird hinter gelassen, um sich ohne Begrenzungen direkt mit der Natur zu verbinden. Je geringer die Barrieren sind, desto leichter findet man das Vertrauen in die Natur und kann die Stärke spüren und in seinem Leben teilen. Die Suche nach weiteren Ebenen, auf denen Götter regieren, auf denen Teufel und das Gute und das Böse das Schicksal beeinflussen, ist obsolet, wenn man den Anschluss an die Natur direkt ohne Vermittler erlebt.
Liebe gibt Freiheit.
Ein Mensch der mit seiner Kultur und Erziehung in eine eingrenzende Wirklichkeit gezwängt ist, wird hinter den Grenzen des Weltbildes eine weitere Ebene von Wirklichkeiten vermuten, die sich mit besonderen Methoden der Bewusstseinserweiterungen erkunden lässt. Es gibt viele Wege in die Landschaft hinter der Vernunft und sie werden mit allerhand Techniken gesucht, mit Meditation, Reiki, Transformation, Traumarbeit, Chi Gong, usw. Viele davon sind aus dem fernen Osten, was nicht sehr verwunderlich ist, denn der nahe Westen ist in seiner technisch materialistischen Kultur eingeschränkt.
Die schamanische Sicht beginnt bei dem erweiterten Bewusstsein und arbeitet sich bis in die Welt der Menschen vor. Damit gewinnt er eine andere Perspektive für die gleiche Welt.
Der Schamane hat eine andere Sicht auf die Welt.
[1] Medin; Bang: Who‘s asking, S. 139, S. 235, Sie bezeichnen die Wissenschaft der ursprünglichen Kulturen als eine ‚relational epistemology’, die vor Descartes’ cogito, ergo sum ihrer Erkenntnis die Grundlage gab: ‚Wir sind, also bin ich.‘ Sie gab den Menschen damit einen Platz in der Obhut der Natur und exponierte ihn keineswegs über die anderen Wesen oder gab ihm gar eine Rolle als den Beherrscher der Natur, der gottähnlich von ihr getrennt ist.
[2] In Gedenken an Immanuel Kant, der jede Wahrnehmung vor dem Einsatz des Verstandes als die Visionen eines Geistersehers abgewertet hat.
[3] S. den Text zum Lebensprinzip
[4] Die Welten sind demnach die finiten Spiele mit einem Beginn und einem Ende.
[5] S. die Ausführungen zur Naturwissenschaft im Kapitel... und die Zitate aus dem Buch A. Friedmann, Die Welt als Raum und Zeit, S. 112. Friedmann war relativ kurz nach den Veröffentlichungen Einsteins zur Relativitätstheorie ein Wissenschaftler, der diese Theorien umfänglich verstanden hat und sie in ein Weltmodell der formalisierbaren, materiellen Erfahrungen integriert hat. Seine Folgerungen aus dem Relativitätsprinzip interpretieren die physikalische Welt aus Materie bestehend innerhalb des geometrischen Raumes.
[6] Der Mensch ist ein visuelles Wesen, deshalb hat er eine Sicht auf die Welt und ein Bild der Welt. Das Schamanische ist nicht visuell und wir können es eigentlich nicht mit den gleichen Begriffen belegen, die hier eine andere Bedeutung brauchen. Die Sicht soll als ein Gefühl erkannt werden, ein Gefühl wie die Liebe und die Geborgenheit. Die Grenzen der Welt sind im Schamanischen aufgehoben, sie gehen im Leben auf. Die Subjekt-Objekt Relation existiert nicht in einem Leben das zugleich Ursache und Wirkung ist. In Analogie zu der Sicht auf die Welt hat das Schamanische ein Gefühl zum Leben.
[7]Thomas Nagel stellt jede Vorstellung von einer Naturordnung in Frage, die keine Erklärung für das Auftreten von Bewusstsein liefert. Die Evolutionstheorie des Lebens muss von Beginn an das Bewusstsein, die Seele und den Geist als etwas Erwartbares beinhalten, wenn sie ein vollständiges Bild liefern will. Th. Nagel, Geist und Kosmos, S. 81
[8] Die Spinne ist ein bewundernswertes Beispiel. Sie spinnt einen seidenen Faden mit den Möglichkeiten, die die Natur ihr gegeben hat. Diesem Faden vertraut sie so sehr, dass sie sich kopfüber an den Faden über einen Abgrund hängt, den sie nicht überblicken oder abschätzen kann. So erleben wir das als Beobachter.
[9] Die Entropie wird von Physikern oder Informatikern oder Naturwissenschaftlern als die maximale Unordnung in einem geschlossenen System bezeichnet. In einem offenen System kann sich Ordnung aus Unordnung in einer Selbstorganisation strukturieren. Diese Strukturierungen täuschen aber nur darüber hinweg, dass der Mensch nicht in der Lage ist, die Interdependenzen und Ordnungen zu erfassen oder gar zu verstehen – weder in geschlossenen, noch in offenen Systemen des natürlichen Lebens.
[10] Thomas Nagel hat diese Konstruktion ausführlich beschrieben und sie in die philosophische Richtung des Naturalismus eingebettet. Er differenziert genauer zwischen dem materialistischen Naturalismus in dem der Geist eine Folge physikalischer Gesetzmäßigkeit ist und dem Theismus, in dem die physikalische Ordnung (die intelligibel ist) eine Folge des Geistes ist. Th. Nagel, Geist und Kosmos, S. 37
[11] Populärwissenschaftlich zusammengefasst von Stephen Hawking; Der große Entwurf, Kapitel 5: Die Theorie von Allem
[12] Thomas Nagel, ebd. S. 38, 39
[13]ebd. S. 39
[14] Wenn wir heute nicht in der Natur überleben können, dann ist das zum Teil damit zu erklären, dass das Wissen verloren ist und damit auch das Vertrauen in die Mutter Erde. Zu einem anderen Teil ist die Lebensuntauglichkeit in der ‚Wildnis‘ damit zu erklären, dass die technische Zivilisation die ‚wilde‘ Natur in großen Regionen beseitigt hat.
[15] John Burnet, Early Greek Philosophy, 2. Ed. London 1908, S.
[16] Dieser Begriff geht auf die griechischen Philosophen und wurde von John Locke wieder aufgegriffen: John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, 1690. Buch 2 Kap. 1 § 2
[17]Die allgemeine Form der Anpassung der Wesen an ihre jeweiligen Rahmenbedingungen wird in dem Kapitel ‚Ordnung der Rahmenbedingungen (Anpassungen-1.pages)‘ thematisiert.
[18] Die individuellen Wirklichkeiten der Wesen werden im Kapitel zu den ‚Wirklichkeiten‘ behandelt, die Versuche zur Abstimmung der Wirklichkeiten im Kapitel zu den Realitäten.
[19] In den verschiedenen Blickrichtungen auf die Welt gibt es unterschiedliche Varianten der anthropozentrischen Orientierung. Emanuel Kant, Rudolf Steiner, Alfred Adler, Sigmund Freud und eine Reihe anderer Wissenschaftler haben unser Bild vom Menschen im Mittelpunkt geprägt. Daraus resultieren Erziehungsideale, die den Menschen in eine Sonderrolle positionieren und seine Einbettung in die Rahmenbedingungen der Natur so bewerten, als ob die Natur dem Menschen untertan zu sein habe. Die ‚übermenschliche‘ Rolle der Gefühle und die Kraft der Triebe und spirituellen Kräfte hat in diesem Bild der Welt keinen Platz.
[20] S. dazu den Text zu „Welt im Leben“
[21] C. Turnbull; The Forest People, S. 247. Der weiße Priester weigerte sich, einen verletzten Pygmäen in sein Gebet einzuschließen, weil er kein Christ ist. Die Pygmäen konnten diesen ausschließenden Glauben nicht nachvollziehen und schätzten von da ab die Bedeutung der christlichen Religion als sehr gering ein: „It is the biggest falsehood I know.“
[22] 2. Buch Mose 20:4
[23] Die Welt ist was der Fall ist.’ Wittgensteins Definition wird in dem Kapitel zu den Wirklichkeiten genauer beschrieben und kritisch beleuchtet.