Natur

 

Natur ohne Ordnung

Jede Ordnung hat nur Teile unserer Welt strukturiert, jede Wissenschaft bietet nur Teilordnungen an. Jeder Denker hat nur Potenzial für ein kleines Gebiet aus der ganzen Welt der theoretischen Möglichkeiten. Die Entwicklung der Denkrichtungen und die Verabredungen der Menschen über die „Wirklichkeit“ haben diese Begrenzungen akzeptiert. Die Struktur baut sich aus einzelnen Teilbausteinen für Ordnungen zusammen und bietet Sicherheiten über Wirkungen und Ursachen in einem Teilgebiet menschlicher Erkenntnisse seiner Welt.

Die Sicherheit wird an den Grenzen der vereinbarten Wirklichkeit geschützt und wie jede Grenze muss sie mit Machteinsatz verteidigt werden. Die Macht ist ein konstituierendes Element der technischen Kultur und wird deshalb in einem eigenen Kapitel besprochen. Die Fragmentierung ist ebenfalls ein Ergebnis der philosophischen Weltanschauung, die den Menschen außerhalb der Natur stellt und ihn als Beobachter verschiedener Teilgebiete der Welt positioniert. Die westliche, naturwissenschaftliche Struktur der Wirklichkeit grenzt das geordnete Bild gegen die Unordnung außerhalb der wissenschaftlichen Erklärungen ab.

Was ist aber außerhalb der strukturierten Wirklichkeit? Es gibt in jedem strukturierten Gebäude von Teilwirklichkeiten immer ein Draußen, das von den bisher verabredeten Wirklichkeiten nicht erfasst ist.

Das Draußen ist die Region der unendlichen Ganzheit, die von den strukturierten Teilbausteinen nicht erklärt, bewertet oder sortiert wird. Das Draußen ist die Ordnung, die für den Menschen nicht erkennbar ist.[5]

Andere Wesen erkennen andere Welten. Das lehrt Demut und Bescheidenheit gegenüber der Natur und entthront aus der schamanischen Sicht den Menschen. Es ist vorstellbar, dass der Wasserfloh sich in einer komplexeren Umwelt orientiert und vielfältigere Beziehungen für sich und seine Möglichkeiten wahrnimmt, als der Mensch mit seinen mittelmäßig entwickelten Sinnesorganen. Der Mensch vereinfacht die Beobachtungen und macht damit seine Welt, seine Werkzeuge und seine Strukturen ungenau. Er vergröbert die feinen Unregelmäßigkeiten der Natur.

Der Prototyp einer Vereinfachung der Beobachtung ist die Kugel. Es gibt keine ideale geometrisch perfekte Kugel in der Natur und trotzdem ist sie eine vielfach herbeigenommene Figur als Repräsentant einer natürlichen Form. Die Erde wird als Kugel bezeichnet, ein Stein, ein Fisch oder ein Atom ebenso. Der Augapfel ist eine Kugel, eine Weintraube oder die Sonne. Seifenblasen, Hexenbesen und Wassertropfen sind natürliche Kugeln. Keines der Beispiele ist idealtypisch, wie zum Beispiel eine Stahlkugel in einem Lager.

Eine ideale Kugel passt sich hervorragend in die Ordnung des menschlichen Bildes der Welt ein, insbesondere in das technische Bild. Eine Kugel ist erkennbar, sie wird mit einer Gestalt verbunden, die sich in der gedanklichen Vorstellung abrufen lässt. Eine Kugel lässt sich berechnen und konstruieren, in Beziehung zu anderen Gegenständen setzen. Man kennt die Eigenschaften einer Kugel und ihre Wirkungen auf ihre Umgebung. Die Ordnung einer Kugel ist festgelegt, wie sie in jeder idealisierten geometrischen Figur festgelegt ist.

Die ideale Kugel ist irreal.

Die Kugel hat eine Bandbreite der Ungenauigkeit, innerhalb der man noch immer von einer Kugel spricht. Bei einer regelmäßigen Holzkugel ist die Abweichung vom Idealzustand gering, bei einer Eiskugel oder einem Kloß ist sie schon größer, selbst die Erde würde man noch als Kugel gelten lassen, aber einen Pfannkuchen sicher nicht mehr. Die Ordnung der Kugel ist klar: Alle Gegenstände mit einem Mittelpunkt und einem gleichen Abstand aller Punkt auf ihrer Oberfläche zu diesem Mittelpunkt bezeichnet man als „Kugel“.

Ähnliche Aussagen kann man für alle geometrischen Formen bilden. Die einfache Geometrie auf einer Fläche wird in der westlichen Welt auf Euklid zurückgeführt und deshalb „Euklid’sche Geometrie“ genannt. Geometrische Formen sind vom Menschen erdacht und werden der menschlichen Welt zugeordnet. Die Welt der anderen Wesen hat vermutlich eine Schnittmenge mit der menschlichen, aber wir wissen nicht, wie groß die Unterschiede außerhalb sind.

In einem schamanischen Zugang zur Natur lässt sich mit den Gefühlen eine Verbindung aufbauen. Die Sinnesorgane der Wesen sind zu unterschiedlich, als dass sie zu einer Vereinbarung über die gemeinsame Wirklichkeit herangezogen werden können.

 

Gefühle verbinden.

Ein Baum hat eine abstrakte Entsprechung in der Kunst, die relativ weit von der natürlichen Form entfernt ist. In der Geometrie hat der Baum keine abstrakte Form, die ihn erkennbar definiert. Die Ordnung des Baumes ist eine vereinbarte Konvention und eine Reduktion der Wahrnehmung auf einen Begriff.

Aus den Ähnlichkeiten der Erscheinungen[6] wird ein Begriff zusammengefasst und ein Puzzlestück in das Bild der Welt eingefügt, das man in Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen der anderen Menschen „Baum“ nennt. Der natürliche Baum hat keine geometrische Entsprechung, man kann ihn nicht berechnen und ohne weitere Beschreibungen wird man nach dem Begriff „Baum“ nicht einen speziellen Baum konstruieren oder zeichnen können.

Im Detail kann man nur recht aufwändig den Baum beschreiben. Selbst die Erklärung braucht eine gemeinsame Welt, um die Details verständlich zu machen. Eine Eiche hat Blätter einer bestimmten Form, sie hat einen Stamm mit einem Umfang, einer bestimmten Struktur oder Maserung. Die Eiche hat Äste die an bestimmbaren Stellen aus dem Stamm gewachsen sind, sie hat große Äste und kleine Äste, sie hat junge Blätter und alte Blätter. Die jungen Blätter sind am oberen Ende der Zweige zu finden und sind von hellgrüner Farbe. Sie hat Wurzeln und diese Wurzeln sind unten in der Erde, um dort aus dem Humus vergangenen Lebens das Wasser und die Nährstoffe für die Blätter zu holen. Die Wurzeln ragen nicht in den Himmel und die Blätter wachsen nicht in der Erde.

 

Natur ist Wildnis.

Die Natur hat keine Ordnung, sie ist wild, ungestüm. Sie hat keine Grenzen, keine Regeln, keine Konstanten. Natur wird in der Vernunftgesellschaft als Restgröße zugelassen, als das was von der Kultur unberührt ist. Diese Restgröße wird jedoch vermessen und bewertet. Wir haben eine Zahl von Hektar oder Quadratkilometern, die naturbelassen sind. Das Wildeste sind aufgeräumte Wälder oder alte Truppenübungsplätze. Die Hüter dieser Natur sind gut organisierte Vereine, die mit Spenden und Almosen aufrechterhalten werden. Die Sachwalter dieser Natur sind alternative Wissenschaftler oder Parteien. Sie sprechen von ihrem Verhältnis zur Natur, aber nicht von der Natur. Und sicher kommunizieren diese Hüter nicht mit der Natur. Wilde Menschen in der Wildnis bleiben unbeachtet. Die Natur aus schamanischer Sicht ist wild. In der Vernunftgesellschaft spricht niemand aus der geordneten Welt mit Hochachtung und Demut von den Wilden, den natürlichen Menschen. Das Leben ist wild und seine Natur ist wild.

Sie hat uns ebenso wild, frei und unabhängig in das Leben gesetzt - ausgerüstet mit Liebe. Liebe und Vertrauen ist alles was wir brauchen, um ein glückliches Leben zu führen. Eine menschliche, naturferne Kultur legt unterwürfig Ordnungen fest, in die sie ihren Kosmos einpasst. Sie unterwirft sich einer Ordnung, die Mutter Erde uns nicht auferlegt hat. Ordnungen werden erfunden und sie begrenzen die Freiheiten. Das Prinzip der Ordnung wurde von Herrschern erfunden, die damit ihre Untertanen gängeln und disziplinieren konnten. Zuerst waren die Herrscher da, die Macht ausüben wollten. Ohne Macht lässt sich eine Ordnung nicht aufrechthalten. Sie hielten sich die Höflinge und Lakaien, die für sie eine Theorie oder eine Religion bauten, nach der die Ordnung erklärt und die Regeln beschlossen wurden.

Die Natur kassiert die Ordnung wieder ein und bringt ihr Chaos zurück. Es ist das Chaos, das seit Jahrmilliarden die Natur aufgebaut und lebenswert gemacht hat. Wer sind wir, dass wir dem eine Ordnung aufdrücken wollen, die nur der Mensch versteht? Er rennt in der Naturwissenschaft der Idee nach, die Welt sei aus Materie zusammengesetzt. In manchen religiösen Interpretationen gibt es sogar die mystischen Fiktionen, ‚Jemand‘ hätte die Materie zusammengestellt, um einen Kosmos für den Menschen zu bauen. Nichts Lebendes lässt sich zusammenstellen, wenn die Verbindungen unbekannt oder unberücksichtigt bleiben.

Der Schamane ist aufmerksam und nimmt jenseits der künstlichen Ordnung die Gefühle der anderen Wesen, die Geborgenheit in der Wildnis, die Ruhe des Chaos, die Stärke der Mutter Erde an. Er achtet auf die Verbindungen, nicht auf die Bausteine. Mit Vertrauen in das Leben und die allumfassende Liebe schafft er einen Sprung auf die Ebene der Tiere, die ohne die gekünstelte Ordnung ihr Leben in Liebe und Zufriedenheit halten. Je mehr er auf die Signale außerhalb der menschlichen Welt reagiert, desto intensiver kommen sie bei ihm an und er bewegt sich mit größerer Sicherheit und Stärke durch das, was andere Menschen als wildes Chaos bezeichnen würden.

Das Chaos hat alle Möglichkeiten.

Natur ist Wildnis mit einer Ordnung, die der Mensch nicht versteht. Daran ändert auch die Forderung der Erkenntnistheorie nichts, dass der Mensch die Natur befragen und ausquetschen soll, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt.[7] Aus dem Herrscherblick auf die Natur gibt es tatsächlich diese irrige Annahme, die Natur hätte Geheimnisse und man könnte sie ihr entlocken. Dieses Unterfangen ist sinnlos, denn die Natur hat keine Geheimnisse. Warum sollte sie auch welche hüten, denn dann kann kein Wesen ihr vertrauen und sich in ihren Armen geborgen fühlen.

Die Befürchtung geheimer Zusammenhänge und verborgener Ursachen ist aus einer Distanz zur Natur und aus Furcht vor der Wildheit außerhalb der menschlichen Vernunft erklärbar. Was ist verwunderlich daran, dass es Ursachen außerhalb der engen Ordnungsfestlegungen einer materialistischen Kultur gibt? Die Naturwissenschaft der westlichen Welt kann nichts erklären, was für das Leben von Bedeutung ist.