Natur

 

Auflösung des Kosmos

Menschen beschreiben einen natürlichen Gegenstand wie den Baum mit Begriffen, die aus Ordnungen hergeleitet worden sind. Es ist ein unendlicher Regress, der Ordnung mit Ordnung beschreiben will. Mit der Sprache der Mathematik glaubt er die unterste Ebene einer ordentlichen Beschreibungsmethode gefunden zu haben. Doch weit unterhalb dieser Ordnungen gibt es eine Ebene, die unordentlich und unberechenbar ist. Bleiben wir bei der Ordnung und versuchen eine einfache, mathematische Beschreibung eines bestimmten Baumes. Dann stellen wir fest, dass viele Annahmen und Konventionen vereinbart und als bekannt vorausgesetzt werden müssen. Jeder einzelne Bestandteil und jede einzelne Eigenschaft hat eine Geschichte und ist aus einer unausgesprochenen Abstimmung oder kulturellen Gepflogenheit entstanden. Es muss verabredet sein, was Blätter, Stämme und Äste sind, wie Wurzeln ungefähr aussehen und dass sie in der Erde sind, was groß ist, was oben, unten, daneben oder darüber ist, was grün bedeutet und wie ein Mensch die Farbe „Grün" sieht, der farbenblind ist.

Die natürliche Ordnung stellt solche Fragen nicht. Die Blätter wissen nicht, welche Funktion die Wurzeln haben und werden doch mit den notwendigen Nährstoffen versorgt, sie vertrauen der Synergie und brauchen kein Verständnis dafür, um Sicherheit für die Zukunft zu erlangen. Sie fragen nicht nach der Funktion oder der Ordnung. Der Mensch ist das einzige Wesen, das Fragen stellen kann und leider auch das einzige Wesen, das Fragen beantworten kann und das Fragespiel überhaupt „versteht“.

Die westliche Kultur versucht krampfhaft, die wilde Natur in ihrem Regelwerk unterzubringen. Der Krampf verfestigt sich schon bei dem Versuch einen Baum oder irgendein anderes Element der lebendigen Natur in die Systematik zu pressen. Das gestaltet sich schwierig und ist voller unsicherer Annahmen und ungeklärter Fragen. Die kreative Unordnung des Lebens lässt sich nicht in der menschlichen Ordnung unterbringen. Erstaunlicherweise gelingt es allen anderen Wesen ohne eine vergleichbare Ordnungsvorstellung und einen sortierenden Verstand, die Funktion und das Leben des Baumes in ihr eigenes Dasein zu integrieren und mit der natürlichen Ordnung zu leben.[8]

Auf dem gleichen Detaillierungsgrad, mit dem wir den Baum definieren, lässt sich ein Wald in der menschlichen Ordnung nicht darstellen. Jedes Blatt zu beschreiben, die Blätter, Äste und Zweige zu zählen, die Stämme zu vermessen, die Wurzeln zu verfolgen und die Farben zu bestimmen, ist mit den menschlichen Mitteln nicht möglich. Bis die Quantifizierung beendet ist, sind neue Blätter gewachsen, alte Blätter abgefallen, frische Wurzeln getrieben oder Zweige abgebrochen. Ein lebendes System lässt sich nur mit einer Unschärfe beschreiben, die eine Quasi-Genauigkeit annimmt, aber in Wahrheit einen Wert postuliert, der nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutrifft. Jede quantifizierte Größe mit Bezug auf die Natur bringt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung mit.

Trotzdem wird man anerkennen, dass ein Wald eine natürliche Ordnung hat, die vom menschlichen Ordnungsverständnis nicht vollständig erfasst wird. Der Mensch kann bis zu einem gewissen Grad eine Ordnung erkennen. Der Wald ist materiell, präsent und sicher. Er wächst und wandelt Energie um. Er ist stabil unter einer Vielzahl von Ereignissen. Die Bäume werden für längere Zeit an dem gleichen Ort wiederzufinden sein. Mit einer Beschreibung der Art der Bäume, ihrer Position, Ausrichtung und Größe und ihrer Anzahl kann man ein Bild des Waldes malen, beschreiben oder aufbauen, so dass seine Ordnung kommunizierbar ist.

Es gibt viele Phänomene in der Natur, auf die das nicht zutrifft, sie entziehen sich der Erfassung in einer menschlichen Ordnung. Sie sind entweder in einer Form quantifizierbar, die das Abstraktionsvermögen des menschlichen Verstandes übersteigt, oder sie sind überhaupt nicht quantifizierbar.

Ein Wasserstrudel bildet sich an einem Felsen und ist damit eine natürliche Erscheinung, die sich wiederholt. Der Strudel ändert allerdings ohne eine ersichtliche Ursache seine Form, seine Geschwindigkeit, seine Richtung oder er verschwindet gänzlich. Man wird trotzdem vermuten, dass diese Änderungen mehrere oder viele Ursachen haben. Dem Menschen mag es gelingen, einige Ursachen und Wirkungen auf den Strudel zu schätzen, ohne zu wissen, ob diese Beziehungen richtig oder vollständig sind. Eine genaue Beschreibung der Wassermoleküle und der Felsformationen, des Wasserstandes und der Windrichtungen wird keine Prognose über die Form und Richtung des Strudels ermöglichen. Der Strudel ist unsicher und wächst nicht in eine bestimmte Richtung, er ist nicht wiederzufinden und er wandelt in einem unklaren Verhältnis die kinetische Energie des Wassers in Bewegungsenergie um.

Mit einem Strudel kann man nichts anfangen. Wenn man alle Wassermoleküle nimmt, die einen Strudel ausmachen, wird der Mensch ihn nicht nachbauen können. Das Abstraktionsvermögen des menschlichen Verstandes ist überschritten. Das gilt ähnlich auch für den Verlauf eines Blitzes. Selbst wenn das Spannungsgefälle, die Luftströmungen, die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und weitere Parameter bekannt sind, ist keine Prognose über die Länge, die Dauer oder den Verlauf des Blitzes zu ermitteln. Und das gilt für tote physikalische Erscheinungen, die zum Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft gehören. Um wieviel ungewisser sind Entwicklungen und Erscheinungen, in denen das Leben mitspielt.

Und doch gibt es für einen Strudel, einen Blitz, einen Regenguss, einen Sandhaufen, ein Meer, einen Luftzug, ein Blätterrauschen oder einen Wassertropfen eine natürliche Ordnung, die der Mensch nutzt und anerkennt ohne sie zu „verstehen“. Die komplexe natürliche Ordnung enthält die einfache menschliche Ordnung. Die Natur teilt ihre Stärke und Kreativität mit den Wesen, damit sie leben können. Jedes Wesen wird für sich in seinen Rahmenbedingungen eine Ordnung erkennen. Es spricht aber nichts für eine allumfassende Ordnung, die alle individuellen Ordnungen enthält. Das Zusammenspiel der individuellen Ordnungen ergibt Chaos. Das Chaos ist die natürliche Ordnung.

Jenseits der Ordnung ist Chaos.

Eine menschliche Ordnung wird am Ende ihres Bestehens in eine natürliche Ordnung zurückgeführt und geht darin auf. Wird ein Wasser erhitzt und auf eine Temperatur gebracht, die an dieser Stelle und unter den vorgefundenen Randbedingungen der natürlichen Ordnung nicht entspricht, dann tauscht die Natur die Wärme mit der Umgebung solange aus, bis die natürliche Ordnung wiederhergestellt ist. Wird ein Sandhaufen künstlich aufgeschüttet, dann wirken die Kräfte der Natur solange, bis er wieder in der natürlichen Ordnung aufgegangen ist.[9] Ein Wesen ist eine temporäre Ansammlung von Energie, Wasser und einigen anderen materiellen Dingen, die aus den Resten vergangener Leben gewonnen werden. Das Wesen sammelt Strukturen und festigt sie in seiner Endlichkeit.

Das Leben wird immer geordneter, weil weniger Freiräume oder natürliche Ordnungen in dem Leben eingebunden sind oder überhaupt noch Platz haben. Die vollständige Ordnung ist der Tod. Danach geht der Körper in die natürliche Ordnung wieder auf, zerfällt oder wird zersetzt und ist die Grundlage für anderes Leben.