Angstfreie Liebe

 

„Ich brauche nichts. Ich bin Noah. Mit dem Namen beginnt mein Ausflug aus dem Paradies. Namen machen aus Möglichkeiten ein Etwas.“ Noah schaut zu mir rüber: „Wir sind unruhig über das Etwas. Schau mal, Du bist schon Etwas.“

„Ich bin Harry und ich brauche das Licht, damit man mich sieht und nicht über mich fällt. Ich brauche die Anziehungskraft an die Erde. Ich brauche Wasser, das mich stärkt und die Sonne, die mich wärmt. Wer seid ihr?“

„Wir, wir, wir,“ sagt Noah, „ich kann nicht antworten, weil ich keine Fragen kenne. Ich sage doch: Ich brauche nichts. Wer fragt, braucht eine Antwort. Ich erzähle Dir die Geschichte, wie ich zu mir selbst geworden bin. Geschichten gefallen mir gut, vor allem, wenn sie keine Fragen enthalten.

‚Wir‘ gibt es nicht, wo ich herkomme. Wir haben keinen Körper und bilden keine Figuren. Wir haben keine Farben und kein Gewicht. Aus uns kann alles werden, dabei sind wir aber nichts. Wir sind da und doch nicht da.“

Ich schaue ihn an und weiß nicht, was er meint. Vielleicht spürt er meine Zweifel. Jedenfalls spricht Noah weiter zu mir:

„Stell Dir die Möglichkeit eines Gefühls vor. Das kann irgendetwas werden, aber es kann sich nicht selbst fühlen. Es kann Dich streicheln und dann fühlt das Gefühl. Besser noch: jetzt fühlt es sich auch selbst. Gefühle werden erst wahr, wenn sie geteilt werden. Jetzt beginnt das Leben.

Zieht das Gefühl zu den Sternen, dann werden sie Sterne. Zieht das Gefühl zu dem Licht, dann werden sie Licht. Alles ist möglich und so ist das Leben. Hier ist eine Möglichkeit, folge ihr. Für mich war die Möglichkeit bei meiner Mutter offen. Die Liebe zog mich zu ihr. Also da wurde ich hingezogen und war die Möglichkeit. Sie nennt mich Noah und so wurde ich selbst aus der Möglichkeit.“

„Die Geschichte fängt gut an“, denke ich, „seine Mutter ist ganz nah bei mir.“

„Du denkst die Mutter ist die, an deren Brust ich gerade trinke?“ Noah hält inne. „Das stimmt und es stimmt auch nicht. Ihre Liebe hat mich angezogen und erinnere Dich, Gefühle werden erst wahr, wenn sie geteilt werden. Ich kam mit der Liebe und habe sie geteilt und nun haben wir beide mehr.

Sie ist Mutter, weil ich aus der Möglichkeit eines Gefühls geworden bin. Ohne mich ist sie Frau, mit mir ist sie Mutter.

Ich kam aus dem Paradies in ihre Welt, in die ganze Welt, und ich brachte die Liebe mit. Ich bringe die Liebe in die Welt.“

„Das ist aber sehr beeindruckend. Du bist doch kleiner, als der Arm Deiner Mutter.“

Noah schaut runter zu mir. „Es gibt kein klein oder groß. Wo ich herkomme, gibt es keine Formen und keinen Raum. Es gibt auch keine Zeit, weil die Unendlichkeit nicht messbar ist. Wir haben Gefühle und die sind riesig. Wir haben Geborgenheit und die ist ohne Bedingungen. Wir haben keine Angst und das stärkt das Vertrauen.“

Noah will mir die Hand reichen und seine kleinen Fingerchen erreichen mich fast. „Alles ist gut, Du kleiner Großer. Ich erkenne Deinen Ursprung. Du hast keine Angst und Du bringst die Liebe mit und Du teilst sie mit uns: die angstfreie Liebe.“

Noah hält wieder inne. „Ja ich teile die angstfreie Liebe, solange sie mir selbst geschenkt ist.
Mit diesem Geschenk streune ich hier und da herum und will es teilen. Die Welt knüpft Liebe an Bedingungen und das macht mich unsicher. Ich soll etwas tun oder sagen, damit die Liebe geteilt werden kann.

Und so tauschen sie Angst gegen Liebe.“

„Dann steigt die Angst mit dem Leben in der neuen Welt.“ So bestätige ich Noah das ich ihm gut zugehört habe. „Dann wird das Leben manchmal schwierig.“

„Kein Baby, kein Hund, kein Fisch, keine Krake, kein Löwe und keine Spinne will die angstfreie Liebe hergeben. Die Liebe unter Bedingungen zwingt Dich dazu. Besser Liebe unter Bedingungen, als gar keine Liebe.

So setze ich den ersten Fuß aus der Angstfreiheit der unendlichen Geborgenheit in die Unsicherheit der menschlichen Welt. Ich ergebe mich der Macht der neuen Welt. Mir schwindet wie jedem anderen Kind die spirituelle Verbindung. Die spirituellen Spielkameraden werden blasser. Die verabredete Wirklichkeit der Gesellschaft durchschneidet Verbindungsleinen zur Unendlichkeit.“

Noah beginnt zu schreien. Ich höre ihm zu und er schreit nach der angstfreien Liebe. Sein kleines Gesicht wird rot vor Anstrengung. Ich fühle mit, denn er hat das Gefühl schon mit mir geteilt.

Er will nicht trinken. Er will nicht tauschen – nicht Ruhe gegen Nahrung. Nicht angstfreie Liebe gegen Bedingungen. Er spürt die Begrenzung seiner Möglichkeiten. Er schreit an gegen die Wandlung in die Endlichkeit.

Hör zu, Mutter, das ist der Gesang der angstfreien Liebe.

„Harry“, ruft Noah und singt und schreit, „Harry. Ich soll die Liebe bekommen, wenn ich aufhöre zu schreien. Diese Liebe will ich nicht. Harry zeig es ihr. Harry tu etwas.“

Ich bin Harry, ich kann alles. Ich öffne die Ohren der Mutter und lasse sie den Gesang der angstfreien Liebe hören.

Du hörst was Du hören willst. Jetzt hört sie den Gesang von Noah und liebt ihn für den Gesang. Er singt jetzt leise weiter direkt in Ihre Seele.

„Noah, sie werden von Dir verlangen, dass Du ‚Mama‘ sagst. Du sollst dich entwickeln. Und sie werden Dich loben, wenn Du Entwicklungsmöglichkeiten findest. Und sie ermutigen Dich nach vorne zu streben und Dich in die Struktur einzufügen. Sie haben einen Schafhirten und wenn Du dem gefallen willst, musst Du zuallererst ein Schaf sein.“

„Ich spüre, dass es so weitergeht.“ Noah ist ruhig. „Sie schüren in mir die Angst nicht geliebt zu werden. Aber meine Suche geht nicht nach vorne in die Welt der Erwachsenen. Ich habe doch die ganze Liebe, das kannst Du doch fühlen, Harry. Ich habe keine Angst, nur Liebe.“

Ich fühle es und Noah soll spüren, dass ich es fühle: angstfreie Liebe.

„Ja Harry, lass uns das Gefühl bewahren, lass die Seele nahe dem Paradies verbleiben, während das Ego durch die Welt zieht. Ich muss jetzt leider los, Harry, ich soll „mama“ sagen. Ich bin so froh, dass Du hierbleibst Harry. So weiß ich immer, wo sie ist:

meine angstfreie Liebe.

Ich bin so froh, dass Du gar nicht wegkannst, Harry. Du bist ein Stein.“

„Ja, ich bin ein Stein. Auf mir sitzt Deine Mutter und säugt Dich, damit Du lebst. Deine Mutter sitzt bequem. Ohne Nahrung würdest Du sterben. Dann versinkt Dein Körper in der Erde und Du gehst wieder dorthin, wo Du nur die Möglichkeit eines Gefühls bist. Ich bleibe hier und behüte die angstfreie Liebe. Ohne sie bist Du nur die Möglichkeit von Nichts.

Ich bin Harry, der Stein.“